Filme schauen statt Abstimmungsparolen lesen

kulturkritik.ch - Bildmaterial zur Verfügung gestellt

Die Veranstaltung

Was: Filme schauen statt Abstimmungsparolen lesen
Wo: Internationale Kurzfilmtage Winterthur
Wann: 04.11.2014 bis 09.11.2014
Bereiche: Film+Fotografie, Internationale Kurzfilmtage Winterthur 2014

Kurzfilmtage Winterthur

Kulturkritik ist Partner der Internationalen Kurzfilmtage Winterthur 2014. Wir begleiteten das Festival und berichteten live.

Die Autorin

Julia Stephan: (*1986) Seit 2006 Studium der Germanistik und Kunstgeschichte an der Universität Zürich. Praktika bei der BAZ und der Aargauer Zeitung. Redaktionelle Mitarbeit beim Zürcher Germanistikmagazin Denkbilder und dem Blog \"Kritik4U\" des Theaters Gessnerallee. Teilzeitproduzentin bei der Aargauer Zeitung.

Die Kritik

Lektorat: Martina Felber.

Von Julia Stephan, 10.11.2014

Die europäische Idee ist eine Vision. Manche halten Visionen für Wahnvorstellungen. Für spiritueller veranlagte Zeitgenossen halten sie die Welt in Bewegung. Dass die Organisatoren der Kurzfilmtage Winterthur im Jahr der Ukraine-Krise den grossen Festival-Fokus selbstkritisch auf Europa gerichtet haben, und nicht, nach dem allgemeinen Festival-Trend, auf «fremde» Kontinente, hat sie selbst ein bisschen zu Visionären werden lassen. Der grosse Fokus «Framing Europe – die Europäische Idee», unterzog die europäischen Visionen in elf Programmen einem Wirklichkeitstest, satirisch, dokumentarisch, emphatisch.

Politische Grenzsetzungen, persönliche Grenzen

Vor dem Urnengang zu Ecopop wurde der Gang an die Kurzfilmtage Winterthur so zum politischen Anschauungsunterricht für die drängenden Probleme unserer Zeit. Die Filme internationaler Filmemacher zeigten eindrücklich, wie politische Grenzsetzungen die persönlichen Grenzen von Menschen gleichermassen schützen oder verletzen können.

Der längste Beitrag, der einstündige Dok-Film «Euromaidan. Rough Cut», zeigte in mehreren Episoden die sich von friedlicher Volksfeststimmung in blinde Wut steigernde ukrainische Protestbewegung. In einer Szene schaut ein bärtiger Greis den sich an ihrem zivilen Ungehorsam berauschenden Jugendlichen beim Stürzen einer Lenin-Statue zu. Über seine Wangen kullern Tränen. «Das ist unmenschlich», flüstert er den ratlosen Jugendlichen zu. Zwischen den Generationen tut sich ein Abgrund auf. Mit solchen subtilen Szenen benennt «Euromaidan. Rough Cut» nicht nur ein Dilemma der Protestbewegung selbst, sondern macht eine zeitlose Aussage über die Interessenkonflikte in pluralistischen Gesellschaften, ein Thema, das alle elf Programme durchzog. 

Ihre grosse Kraft holten die Filme aus der ihnen eigenen Qualität, die Auswirkungen politischer Entscheide in emphatischen Bildern festzuhalten. Besonders die von Europa Ausgegrenzten bekamen im Europa-Programm eine starke Stimme: Ein illegal in Frankreich lebendes kongolesisches Mädchen wird im Kurzfilm «Aïssa» von Clément Trehin-Lalanne von einem Arzt an jeder Körperstelle untersucht. Ziel der amtlich verordneten, entwürdigenden Prozedur ist ein klinischer Beweis ihrer Volljährigkeit, der sie zur Ausschaffungs-Kandidatin macht. Diesem Opfer der Rechtsordnung stehen die geschockten Gesichter unerfahrener niederländischer Grenzwächter im Film «Escort» gegenüber, die an einer Schulung erfahren, welche legalen Instrumente ihnen zur Bändigung von Ausschaffungs-Kandidaten zur Verfügung stehen.

«Sonderfall» Schweiz

Die Schweiz war – nach einem Zitat von SVP-Chefstratege Christoph Blocher – als «Sonderfall» mit zwei Programmen zum Thema Zuwanderung («Sonderfall Schweiz: ‹Es kommen Menschen›») und Europapolitik («Sonderfall Schweiz: Beziehungsstatus: ‹It’s complicated›») vertreten. Dokumentarisches Fernsehmaterial, unterbrochen von satirischen Einstreuseln –  ein Schafzüchter äussert sich zu den rassischen Qualitäten schwarzer Schafe («Die Schafmacher») –  zeichneten die emotional geführten Debatten zu den heissen Themen Einwanderung und Europapolitik nach, die schon in der Nachkriegszeit in der Schweizer Volksseele gebrodelt haben, und vor der Abstimmung über die Ecopop-Initiative wieder einmal den Siedepunkt erreichen. 

Dass schon geringfügige Abweichungen das nachbarschaftliche Verhältnis unter Ländern verkompliziert, zeigte der Film «89mm from Europe». 89 Millimeter Differenz bestand Anfang der 1990er-Jahre zwischen dem Schienennetz Europas und dem der UdSSR. Europäischen Züge wurden vor der Weiterfahrt an der polnisch-weissrussischen Grenze damals in Schwerstarbeit die Laufwerke ausgetauscht. Zusammen mit einigen klaustrophobischen, subversiven Beiträgen aus der ehemaligen DDR  waren es vor allem solche Bilder, die einem im Zeitalter der Angst vor Entgrenzung das Gefühl zurückgaben, im Schengen-Zeitalter doch geradezu grenzenlos mobil zu sein.  

Weiterlesen: