Mit Schnürlischrift gegen das Schweizer Bildungssystem

kulturkritik.ch - Bildmaterial zur Verfügung gestellt

Die Veranstaltung

Was: Yves Yersin: Tableau Noir
Wo: Filmfestival Locarno, Concorso Internazionale
Wann: 12.08.2013
Bereiche: Film+Fotografie, Locarno Film Festival 2013

Filmfestival Locarno

Kulturkritik ist am 66. Filmfestival Locarno. Wir begleiteten das Festival und berichteten live.

Die Autorin

Sarah Bleuler: Wird ergänzt.

Die Kritik

Lektorat: Olivier Christe.

Von Sarah Bleuler, 17.8.2013

Während einem Jahr begleitete die Kamera des Schweizer Regisseurs Yves Yersin die Bergschule von Derrière-Pertuis. Entstanden ist, acht Jahre später, «Tableau Noir»: eine gelungene Dokumentation, authentisch und kritisch gegenüber dem Bildungssystem Schweiz. Einzig die Mittel des Regisseurs zur Lösung dramaturgischer Probleme erscheinen teilweise unnatürlich.

Seit drei Generationen unterrichtet Lehrer «Monsieur» Gilbert Hirschi an der kleinen Bergschule von Derrière-Pertuis in den Anhöhen des Juras. Eine einzige Klasse zählt sie, ungefähr zwölf Kinder, zwischen sechs und elf Jahre alt, verbringen da gemeinsam ihre Primarschulzeit. Ihr Schulalltag ist geprägt von den Methoden und der Persönlichkeit Hirschis. Täglich holt dieser die Kinder mit dem Schulbus ab und fährt sie zur Schule.

2007 begleitete die Kamera des inzwischen 71-jährigen Schweizer Regisseurs Yves Yersin, dessen Film Les petites fugues (1979) zu den erfolgreichsten Schweizer Filmen aller Zeiten gehört, die Klasse während einem Schuljahr. Nun, nach vielen Jahren mit grossen Finanzierungsproblemen und dem lange aussichtslos scheinenden Kampf gegen die Materialfülle, konnte der Film «Tableau Noir» im internationalen Wettbewerb am Filmfestival Locarno endlich dem Publikum präsentiert werden. Zum Glück, denn Yves Yersin und seiner Crew ist es gelungen, die Dreharbeiten so in den Schulalltag zu integrieren, dass die Kinder die Präsenz der Kamera vergessen konnten.

Mit Kopf, Herz und Hand

Vielleicht hatten die Kinder aber schlichtweg keine Zeit sich um die Kamera zu kümmern, denn der Schulalltag in Derrière-Pertuis ist lebendig. Bewegung, spielerisches Lernen und Gespräche: Johann Heinrich Pestalozzi hätte seine helle Freude gehabt an der Pädagogik Hirschis. Kopf, Herz und Hand? Ja, und mehr als das! Hirschi fordert von seiner Klasse vollen Körpereinsatz. Da werden Pflanzen nicht nur mit der Lupe, sondern auch mit dem Mund inspiziert, während dem Klassenlager wird die Region um den Walensee im Schlamm nachgebaut und im Deutschunterricht redet die Klasse nicht nur über Früchte, sondern bereitet gleich einen Fruchtsalat zu.

Berührend ist der Film vor allem durch seine Nähe zum Schulalltag, zu Lehrer Hirschi und den Kindern. Er bringt uns zum lachen, wenn ein Mädchen sein Geburtsdatum nicht kennt, allerdings inbrünstig behauptet, es habe immer am Mittwoch Nachmittag Geburtstag. Wir leiden mit, wenn Miriam weint, weil ihr Diktat mehr Fehler enthält, als sie sich zugesteht. Und wir sind beeindruckt vom Improvisationstalent der Kinder, als der kleinste Bub beim Schultheater seinen Einsatz knapp verpasst.

Schnürlischrift als roter Faden
Die Dokumentation ist in Kapitel unterteilt, die jeweils mit Kreide in Schnürlischrift auf das «Tableau Noir» geschrieben werden. Innerhalb dieser Kapitel wird irgendwann klar: Die Existenz der Schule ist in Gefahr. Der kommunalen Politik reicht die limitierte Anzahl Kinder nicht, um eine ganze Schule zu betreiben. Eltern, Lehrer Hirschi und die Kinder kämpfen gemeinsam, doch vergebens. Die Schule muss Ende Jahr schliessen. Hirschis Abschied ist der Moment, in dem nur wenige Augen trocken bleiben; im Film, im Kinosaal.

Yersin hat bei der Auswahl der Szenen aus unzähligen Stunden Filmmaterial vieles richtig gemacht. Einige erwecken beim Zuschauer allerdings den Verdacht, sie seien (nach)gestellt. Zum Beispiel wenn Lehrer Hirschi mit Bewohnern der Gegend, denen er auf dem Schulweg scheinbar zufällig begegnet, über die Gefahr der Schliessung der Schule diskutiert. «Wenn die Schule schliesst, ist der Berg tot», sagt ein Gesprächspartner. Eine schöne, treffende Aussage, die genau das Gefühl des Moments im Film widerspiegelt, doch sie wirkt etwas gekünstelt und nicht ganz spontan geäussert.

Nachgestellte Szenen

Keine Frage, ein Dokumentarfilmer darf Szenen nachstellen, um möglichst nahe an die (Re)konstruktion der Wirklichkeit zu gelangen. Und der Zuschauer darf sogar bemerken, dass eine Szene womöglich vom Regisseur beeinflusst wurde. Doch sie sollte nicht künstlich wirken, sodass man das Gefühl kriegt im Theater zu sitzen. Es scheint, als hätte Yersin Probleme gehabt, die Entwicklung der Geschichte um die Gefahr der Schliessung der Schule dramaturgisch umzusetzen und deshalb zum Mittel der Konstruktion gegriffen.

Im öffentlichen Gespräch über seinen Film direkt nach der Premiere in Locarno erzählt Yersin offen, dass einige Szenen rekonstruiert wurden. Die Film-Crew habe sich in der Schule so diskret wie möglich verhalten, doch manchmal hätten sie die Kinder beispielsweise gebeten etwas für die Kamera zu wiederholen. So wurden die Kinder hin und wieder zu Schauspielern, allerdings Schauspieler, welche die Realität seiner Ansicht nach «parfaitement» wiedergaben.

Die Kamera im Schulalltag

Abgesehen von den wenigen, kurzen Szenen, die zu gestellt wirken, haben Yersin und sein Team eine bewundernswert authentische Dokumentation geschaffen. Die Präsenz der Kamera, und damit verbunden die Intervention in den Schulalltag, beginnend bei der täglichen Verkabelung der Kinder bis hin zur Anpassung der für die Kamera optimalen Lichtsituation im Klassenzimmer, bleibt dem Publikum verborgen. Genau dies unterstreicht noch einmal den einzigartigen Charakter der Schule. Denn eine Produktion wie «Tableau Noir» erfordert nicht nur Einfühlungsvermögen, Diskretion und Neugierde seitens des Filmteams, sondern vor allem unglaublich viel Flexibilität, Vertrauen und Mut seitens der Protagonisten.

Während man mehr als hundert Minuten von der pädagogischen Leistung Hirschis begeistert war und überzeugt ist, dass Kinder zu ihrer Entfaltung im Primarschulalter genau den Raum brauchen, der ihnen an dieser Schule geboten wird, stellt sich am Ende des Films beim Zuschauer ein Gefühl von Ratlosigkeit ein. Und mit der nicht nachvollziehbaren Schliessung der Schule wird die Dokumentation zur Kritik an der Bildungspolitik der Schweiz. Denn im Vergleich mit der Bergschule kommt unsere eigene Primarschule garantiert schlechter weg. Und unsere Primarschule existiert ja noch.

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