Herzog und Kinski in: Die Freilegung des Menschen

Die Veranstaltung
Was: Werner Herzog: Aguirre, der Zorn Gottes
Wo: Filmfestival Locarno, Premi speciali
Wann: 07.08.2013
Bereiche: Film+Fotografie, Locarno Film Festival 2013
Filmfestival Locarno
Kulturkritik ist am 66. Filmfestival Locarno. Wir begleiteten das Festival und berichteten live.
Der Autor
Olivier Christe: Geboren 1986 in Basel. Studium der Osteuropäischen Kulturen und der Ethnologie in Basel. Zurzeit im Masterstudiengang publizieren&vermitteln an der ZhdK.
Die Kritik
Lektorat: Sarah Bleuler.
Von Olivier Christe, 23.8.2013
Im Jahr 1972 drehte Werner Herzog mit Klaus Kinski in der Hauptrolle den Film Aguirre, der Zorn Gottes. Die Aufnahmen im peruanischen Dschungel glichen der Expedition, welche die Geschichte erzählt und war für die Filmcrew eine Grenzerfahrung. Herzog aber hatte genau danach gesucht und fand in Kinski den idealen Schauspieler. Ein Schauspieler, der den Dreh zur Realität werden liess.
Der Zorn Gottes treibt auf der Suche nach El Dorado den Fluss hinunter. Wenn er, Aguirre, will, dass die Vögel tot von den Bäumen fallen, dann fallen die Vögel tot von den Bäumen. Und er droht seinen Männern bei Desertion mit 155 Jahren Gefängnis und der Teilung in 198 Teile, bis, dass man die Wände mit ihnen streichen könne. Der Zorn Gottes ist wahnsinnig, ist Kinski. Klaus Kinski. Kinski ist Aguirre und Aguirre ist Kinski. Und der Wahnsinn ist Genie.
Um jeden Preis nach El Dorado
Aguirre ist eine historische Figur, die sich zur Zeit der Eroberung Südamerikas in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gegen die spanische Krone auflehnte und auf seinem von Grössenwahn gezeichneten Feldzug keine Mittel scheute. Die Überlieferungen berichten von einem wahnsinnigen Tyrann und Mörder. Der Film Aguirre, der Zorn Gottes baut vage auf dieser historischen Begebenheit auf, erzählt im Wesentlichen aber eine fiktive Geschichte. Es ist die des Lope de Aguirre, der auf einer Suchexpedition nach El Dorado die Macht an sich reisst und schliesslich dem Wahnsinn verfällt. Seine gesamte Mannschaft treibt er im Glauben an Macht und Ruhm gewaltsam den Indianern, dem Hunger und den Krankheiten in die Arme.
Was von der Expedition übrig geblieben ist, treibt auf einem Nebenfluss des Amazonas’ immer tiefer ins grüne Herz des Kontinents. Die vielen Toten, die den Giftpfeilen und Langspeeren des unsichtbaren Feindes aus dem Wald erliegen, beschwören eine unkontrollierbare Reaktivität der Mannschaft, vor allem aber Aguirres, herauf. Statt sich in einem brennenden Indianerdorf nach Essbaren umzusehen, treibt er seine Leute fanatisch nach Vorsicht. Er wütet, schreit, schlägt, verteilt Fusstritte und prügelt mit dem Degen auf seine Leute ein. Und Kinski ist Aguirre und wütet, schreit, schlägt, verteilt Fusstritte und prügelt mit dem Degen auf seine Leute ein. Dabei verletzt er einen Statisten trotz Helm schwer am Kopf. Dieser sagt später in dem Dokumentarfilm Mein liebster Feind von Werner Herzog über Klaus Kinski, dass dieser in allen Szenen des Films von einer intensiven Aggressivität geleitet, dabei kaltblütig und berechnend war.
Eine Frage des Fokus’
Kinski war ein schwieriger Schauspieler. Seine Wutausbrüche sind ein Youtube-Hit. Aber er war kein Wahnsinniger in dem Sinn, dass man ihn, einem Löwen gleich, im richtigen Moment aus dem Käfig lassen musste und er zu wüten begann. Kinski war ein Autodidakt. Und wenn oben von Genie die Rede ist, dann meint dieser Begriff die Fähigkeit zum fast krankhaften Fokus auf eine Sache. Nicht den Musenkuss, nicht die göttliche Eingebung. In Mein liebster Feind schildert Herzog Kinskis Übungsaufwand. Zehn Stunden täglich habe dieser zum Beispiel Sprechübungen gemacht. Und genau dieser Fokus auf die Sache verband die beiden, denn, was sie auch immer trennte, der verbindende Punkt musste lange Zeit überwogen haben. Beweis dafür ist die 15-jährige Zusammenarbeit.
Herzogs Fokus war anderer Natur. Es war seine Fähigkeit an Träume zu glauben. Die Last der Träume heisst ein Dokumentarfilm über den Dreh von Fitzcarraldo, einer späteren Zusammenarbeit von Herzog und Kinski. Das Wort Last weist gut auf die Tragweite von Herzogs Träumen hin. Der Film stand aufgrund einer Erkrankung des Hauptdarstellers Jason Robards vor dem Ende. Herzog musste sich auf die Suche nach einem neuen Schauspieler begeben und die Produktionsfirma begann am Film zu zweifeln. Auf die Frage, ob er denn noch die Kraft und die Energie habe, den Film neu zu drehen, antwortet Herzog empört: Wenn ich dieses Projekt aufgebe, wäre ich ein Mann ohne Träume. So will ich nicht leben.
Der Film als Expedition
Aguirre, der Zorn Gottes drehte Herzog tief im peruanischen Dschungel. Der Drehort lag weit abseits grösserer Siedlungen und aufgrund des schmalen Budgets von 320 000 Dollar glich der Dreh selbst der apokalyptischen Expedition, die der Film thematisiert. Die Isolation war allerdings von Herzog bewusst gewählt. Er sagt, dass Menschen nur unter diesem Druck ihre wahre Natur offenbaren. Seine Vorstellung dieser Offenbarung menschlicher Tiefe wird noch klarer, wenn er die Expedition mit chemischen Versuchen vergleicht: Es ist dasselbe, was in der Chemie bei der Entdeckung eines neuen Stoffes gemacht wird. Um seine innersten Eigenschaften zu erfahren, setzt man den Stoff extremen Bedingungen aus. Extremer Hitze, extremem Druck, extremer Strahlung. Und nur so findet man die essentielle Struktur, welche es zu erklären, zu entdecken und zu beschreiben gilt. Herzog ist ein Suchender nach dem Realen im Menschen, das er tief unter der oberen Hülle vermutet und herausgearbeitet werden muss. Von ihm herausgearbeitet werden kann. Durch extreme Hitze, extremen Druck und extreme Strahlung. Herzog unterzieht also nicht nur sich selbst einer Kasteiung, sondern er fordert dieses Opfer auch von anderen.
Die Löwen – Kinder der Natur
Die Suche nach dem Realen, nach dem Authentischen war eine Obsession Herzogs. Dies zeigt sich in seiner Faszination für die indigenen Völker des Amazonas’. Er betont, dass seine Filme keine Ethnographien, sondern Spielfilme sind. Denn die Indigenen, so Herzog, folgen einem Drehbuch. Allerdings zeige sich in ihrem Schauspiel das Authentische ihrer Kultur, ihres Verhaltens, ihrer Bewegungen, ihrer Sprache. Die Indigenen vergleicht er mit Löwen und stellt sie an die Spitze der göttlichen Schöpfung.
Herzog ist ein verspäteter Romantiker. Er sieht in der Natur das Böse, das Furchterregende. Dies betrachtet er jedoch mit einer grenzenlosen Faszination und unterstellt dem Menschen der Gegenwart Degeneration und Unterdrückung der Sinne. Es sind dieselben Gedanken, wie sie die Romantiker in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geäussert haben. Das Bild des edlen Wilden ist bei Herzog tief verankert und steht in argem Gegensatz zur geistigen Entwicklung der Siebzigerjahre, in denen der amerikanisch-palästinensische Literaturtheoretiker Edward Said mit seinem Buch Orientalismus den Beginn der Postkolonialen Studien markierte und die Konstruktion des Fremden kritisierte. Herzog aber war immun dagegen, die Löwen real und der Westen verkommen.
Um seinen Traum von der wahren Natur der Menschen zu erfüllen, war der Expeditionscharakter in seinem Verständnis also unabdingbar. Wenn wir Herzog als immun gegen den postkolonialen Diskurs annehmen, so ist es möglich, in seinem Zusammenhang das Wort animalisch zu benutzen. Und das Animalische, den Löwen, wollte er den Indigenen gleich den Schauspielern und Statisten entlocken. Aus diesem Grund die Expedition.
Kinski der Löwe
Kinski sagte einst, dass die einzige interessante Landschaft, das Gesicht des Menschen ist. Herzog würde wohl bejahend ergänzen: das Gesicht des Menschen in seiner unverblümten Natur. Die Stichworte, die Herzog durch den Kopf gingen, wären wohl Wörter wie rein, ursprünglich, nackt. Und mit denselben Wörtern würde er wohl Kinski beschreiben. Und ja, animalisch wäre wohl auch dabei. Instinktgeleitet. Die authentische Energie, die er in Kinski sah, wollte er durch bewusste Handlungen für seine Zwecke nutzen.
Und Herzogs Sucht nach Authentizität entsprach Kinskis Verachtung für alles Gestellte und Verfremdete. Dies zeigt die Verachtung, die er fast allen seinen Filmrollen, die auf Effekthascherei bauten, entgegengebracht hat. Dies zeigt aber auch die Sinnlosigkeit, die er in Schauspielschulen sah. Er sagt in seiner Autobiographie, dass eine Schauspielausbildung kontraproduktiv sei, da dadurch der Mensch verloren gehe. Gleiches haben auch andere Autodidakten wie etwa Marlon Brando fast religiös verfochten.
Den Fokus, den Herzog auf seinen Traum zu legen vermochte, richtete Kinski auf seine eigene Person. Wie die oben erwähnte Szene mit dem verletzten Statisten zeigt, unterschied Kinski nicht zwischen Schauspiel und Realität. Gleiches beweist seine Jesus-Tournee, in der er sich als der neue Erlöser ausgab. Er war nicht geisteskrank und verstand die Bedeutung von Schauspiel. Sein Nicht-Unterscheiden bezieht sich auf die Ernsthaftigkeit, mit der er die Dinge tat. Der Film, das Darstellen wurde unendlich wichtig, sodass hier der Unterschied zwischen Film und Realität verschwand. Die Welt, so könnte man sagen, wird dabei sehr klein und konzentriert. Es ist dieselbe Begrenzung, die Herzog mit der Isolation im Dschungel beabsichtigte und die die absurde Setsituation überwand. Kinski hatte sie persönlich bereits lange überwunden.
Der real inszenierte Spielfilm
Diese gemeinsamen Ausgangspunkte führten zu einer langjährigen Zusammenarbeit zwischen Herzog und Kinski. Zwischen 1972 und 1987 produzierten sie fünf gemeinsame Filme. Mit Aguirre, Fitzcarraldo, Nosferatu und Woyzeck gehören vier dieser fünf Filme zum Besten, was das deutsche Kino je geschaffen hat. Cobra Verde, die letzte Zusammenarbeit, fällt dann aber deutlich ab. Die anderen, allen voran Aguirre, heben sich eigenartig von anderen Filmen der Filmgeschichte ab und können nur schwer mit ihnen verglichen werden. Grund dafür ist der oben skizzierte Expeditionscharakter und dadurch die Überwindung des Filmsets. Real inszenierter Spielfilm wäre der Versuch einer Beschreibung dieses Genres. Herzog würde sagen, eines Genres, das den Fokus auf die wahre Natur der Menschen legt. Kinski spräche von der Bedeutung der menschlichen Gesichter. Doch eigentlich meinen sie dasselbe und stellen den Plot der Geschichte in den Hintergrund. Es sind vielmehr Studien über das Authentische im Menschen. Doch Lope de Aguirre und seine Leute haben wohl auch nicht dauernd die Entwicklung ihrer Expedition überdacht. Das Ziel war El Dorado. Das vielbeschworene Goldland, das aber aufgrund seiner utopischen Existenz nie erreicht werden konnte. Genauso ist die Freilegung des Menschen eine Utopie. Sofern es eine ursprüngliche menschliche Natur gibt, ist sie fest mit den sie überlagernden Schichten verwachsen. Hemmungen, Scham, und die Eindrücke eines ganzen Lebens können nicht einfach so entfernt werden. Im Versuch, diesem Ziel maximal nahe zu kommen, sind Aguirre und später Fitzcarraldo aber bis heute eine wichtige Messlatte.