Let there be rock!

Die Veranstaltung
Was: Tocotronic
Wo: Rote Fabrik, Zürich
Wann: 09.03.2013
Bereich: Musik
Die Autorin
Fabienne Schmuki: Jahrgang 1983. Absolventin des Masterstudiengangs Kulturvermittlung, «publizieren & vermitteln» an der ZHdK. Co-Geschäftsführung eines Schweizer Independent Musikvertriebs; Promotion & Kommunikation. Freelancerin für diverse Print-/Onlinemedien.
Die Kritik
Lektorat: Patricia Schmidt.
Dieser Beitrag wurde durch eine Patenschaft ermöglicht. Herzlichen Dank (siehe Unabhängigkeit).
Von Fabienne Schmuki, 11.3.2013
Tocotronic in der Roten Fabrik. Verwendet man Sportvokabular, kommt das einem Heimspiel gleich: Wenn die Band Zürich besucht, spielt sie in der Aktionshalle. Die Polyester-Trainingsjacken sind längst weg, der Seitenscheitel ist geblieben, die Klischees der Popmusik bedienen Tocotronic auch nach zwanzig Jahren Bandgeschichte noch immer. So auch das Klischee der in die Jahre gekommenen Künstler: Die Wut ist dem Bauchansatz gewichen, der Einzelkämpfer Rebellion bückt sich schweigend dem potenteren, erwachsenen Pluralismus.
In höchsten Höhen
Tocotronic sind seit Beginn der 90er-Jahre Könige des Anprangerns, der scharfen Zunge und Beobachtungsgabe. Mit den Texten aus den zehn Tocotronic-Studioalben könnte man sämtliche Toilettenwände deutscher Hochschulen tapezieren. Tocotronic sind nicht die Stimme einer Generation, sie sind die Stimme mehrerer Generationen. Diese Band hat immer gesagt, was sie nicht will und wogegen sie kämpft.
Und nun steht in roten Lettern auf dem Albumcover: «Wie wir leben wollen». Tocotronic haben viele Versionen dafür, wie wir leben wollen. Es ist wiederum eine poetische Platte, aber diesmal von Musikern, die 40 sind und dies auch thematisieren. Sie lassen ihre Fans wissen, wofür sie denn eigentlich sind. Die liebliche Ausdrucksform sei eine Form von Rebellion, erläuterte Sänger Dirk von Lowtzow in einem Interview, denn ein weisser heterosexueller Rocksänger habe so nicht zu singen. Natürlich und zum Glück ist der kritische Unterton geblieben und auch zum Glück geschieht dies alles noch immer ohne erhobenen Zeigefinger.
Keine Meisterwerke mehr
Ein Konzert von Tocotronic ist ein sicherer Wert. Stets gesellschaftskritisch, implizit politisch, wütend und laut, zart und narkotisch; ob «Diskursrocker» oder «Poetenpop» – die Texte von Dirk von Lowtzow sind komplex, gespickt mit Fremdwörtern, angereichert mit eigenen Wortkreationen und sauer und giftig.
Ausgerechnet diese Vehemenz, diese «alles oder nichts»-Haltung, lässt die Band am Samstagabend in der Aktionshalle vermissen. Ältere Songs wie «Aber hier leben, nein danke», «Sag alles ab» und «Freiburg» schmettern Tocotronic ihrem Publikum noch immer schonungslos entgegen. Doch das passt schlecht mit den lieblichen Songs aus «Wie wir leben wollen» zusammen. Davon spielen Tocotronic in der Roten Fabrik zahlreiche, doch sie entpuppen sich als Bremsklötze statt Beschleuniger, Beruhigungsmittel statt Verstärker. Sie ersticken jede sich ankündigende euphorische Stimmung des Publikums im Keim und alles bleibt, genau wie im Song, «warm und grau».
Im Keller
«Alles wird in Flammen stehen», singt die Band aus Hamburg und Berlin in der Mitte des Sets und auf der Leinwand steigt der Schriftzug «Lucifer Rising» empor. In der ausverkauften Aktionshalle aber bleibt es lauwarm, von Hitze kann nicht die Rede sein, der Funken ist nicht gesprungen.
Das Publikum langweilt sich mehr über sich selbst als über die Band. Doch die Vorschuss-Lorbeeren haben sie bereits nach dem ersten Song zu hören gekriegt: «Ihr seid jetzt schon das beste Publikum», sagt von Lowtzow gewohnt nonchalant. Wenn es nach der Band geht, war dies der Höhepunkt: «Im Keller», hiess der allererste Song, und genau dort ist auch die Stimmung immer wieder im Laufe des Konzertes.
Tocotronic machen sich für die Asylpolitik stark und zeigen vor Betreten der Bühne einen Clip von Pro Asyl. Nicht nur das explizite Politisieren ist neu, sondern auch, dass Tocotronic sich fürs Energiesparen einsetzt: Die Energie der Band hat an diesem Abend die Intensität eines Solar-Rucksacks. Vielleicht haben Tocotronic mit ihrem neuen Album und den Ideen, die sich darauf finden lassen, recht: Vielleicht wollen wir so leben. Aber Konzerte erleben, wollen wir künftig bitte wieder anders.