Ideen für krankende Städte

Die Veranstaltung
Was: The Human Scale
Wo: Zurich Film Festival, Arena 8
Wann: 06.10.2013
Bereiche: Film+Fotografie, Zurich Film Festival 2013
Zurich Film Festival
Kulturkritik ist am Zurich Film Festival 2013. Wir begleiteten das Festival und berichteten live.
Die Autorin
Antonia Steger: Jahrgang 1988, studiert Germanistik und Kulturanalyse im Master, arbeitet daneben im Ausstellungsbereich (Kommunikation/Redaktion).
Die Kritik
Lektorat: Dave Schneider.
Von Antonia Steger, 2.10.2013
Eiseskälte schnürt das Herz zusammen, die Schritte verhallen ungehört in Strassenschluchten aus Beton, Glas und Stahl. Nur ab und zu rauscht ein Auto vorbei und schneidet einen verzerrten Schatten in die Strassenbeleuchtung. Was einem apokalyptischen Science-Fiction-Streifen entommen sein könnte, ist in Realität das «pulsierende Trendquartier» Zürich-West in einer Freitagnacht. Wenn sich die Dunkelheit über das zu Tode neubebaute Stadtviertel legt, breitet sich dort eine Wüste aus –und das an einem Ort, wo einst so verheissungsvolle Konzepte wie «Puls 5» das ehemalige Industriequartier hätten beleben sollen. Dies ist nur ein Beispiel für viele durchgeplante Stadtprojekte weltweit, deren Urbanität nicht funktioniert. Doch was ist da schief gelaufen?
Denkt für Menschen, nicht für Autos
Seit dem Aufkommen der Massenmobilisierung hat man Städte so zu bauen begonnen, dass sie sich besonders gut für den Automobilverkehr eignen. Dieser verhiess schliesslich Freiheit und Selbstbestimmung. Dass mit diesen städtebaulichen Entscheidungen hingegen beengende und krank machende Städte entstanden sind, möchte der Dokumentarfilm «The Human Scale» zeigen. Er stellt die jahrzehntelangen Stadtforschungen des dänischen Architekten Jan Gehl vor. Dessen Lösungsansatz besagt, dass Städte vermehrt aus der Perspektive der Fussgänger statt der Autofahrer betrachtet werden sollen. Damit würden sich die Bewohner wieder als Teil des öffentlichen Raumes wahrnehmen, statt zurückgedrängt an Zivilisationskrankheiten zu verelenden.
Als Beispiel für gelungene Raumplanung wird Gehls Heimatstadt Kopenhagen porträtiert, wo in den 1960er Jahren grosse Teile dem motorisierten Verkehr entzogen und den Fussgängern zurückgegeben wurden. Ein Fahrradnetz von 350 Kilometern unterstützt die Lebendigkeit dieser Stadt und wer je durch Kopenhagen flaniert ist, weiss, wie gut das funktioniert. Andere Städte haben sich davon inspirieren lassen – so ist seit 2009 der Times Square in New York für Autos gesperrt und erst jetzt wieder zum blühenden Platz im eigentlichen Sinn geworden. Der Film zeigt in eindrücklichen Vorher-Nachher-Aufnahmen, wie die Fussgänger ihren Raum mit Cafés und ein bisschen Lebensruhe wieder zu nutzen beginnen. Auch Chongqing, die am schnellsten wachsende Stadt Chinas, hat sich an das Experiment Fussgängerwege gewagt – wenn auch mit deutlichen Startschwierigkeiten in einem Land, das so stolz auf seine gerade explodierende Automobilisierung ist.
Konventionell gefilmt
Gehls Ideen werden in «The Human Scale» sehr einleuchtend demonstriert, wenn auch die Machart des Films ein Wehmutstropfen darstellt. Ohne kritische Gegenstimme ist der als dokumentarisch verkaufte Film eher ein Essay, Gehls Visionen geraten in die Gefahr der Glorifizierung. Zu häufig wird emotionalisiert statt informiert: Wenn der Film zum Beispiel auf Dhaka fokussiert und längst überbekannte Bilder wiederholt (indische Kinder, die am Eisenbahngleis sitzen, während ein Zug durchs Bild donnert) oder wenn emotionalisiert Zahlen präsentiert und hinter beeindruckenden Bildern Pseudowissen versteckt werden – dann wünschte man sich etwas mehr Trockenheit.
Und doch verzeiht man dem Film seine Flausen, denn er stimmt hoffnungsfroh. Es bräuchte nicht viel, um lebenswertere Städte zu bauen. Es braucht vor allem Architekten und Institutionen, die den Mut haben, einen Teil der Urbanität der Bevölkerung zu überlassen. Denn erst wenn die Bewohner selbst in ihre Stadt eingreifen können, entstehen die vielen unplanbaren Orte, die Kreativität ermöglichen und das Leben in der Stadt lebenswert machen. Der Film zeigt nicht zuletzt, dass damit Projekte entstehen, die sogar viel wirtschaftlicher sind als das, was sich Grossinvestoren in Masterplänen ausdenken können. Das macht Lust, den öffentlichen Raum vor der eigenen Haustür wieder stärker als Gestaltungsfläche wahrzunehmen – und die Diskussion über unsere Städte als eine Frage zu betrachten, die uns alle unmittelbar etwas angeht.