Leben günstig abzugeben

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Die Veranstaltung

Was: Scripted Life
Wo: Theater Neumarkt, Chorgasse
Wann: 30.05.2013
Bereiche: Gesellschaft, Theater

Die Autorin

Patricia Schmidt: Jahrgang 1985, studierte Publizistik, Politik und Literaturwissenschaft in Zürich, arbeitet im Consulting.

Die Kritik

Lektorat: Stefan Schöbi.

Von Patricia Schmidt, 2.6.2013

Was heisst es eigentlich wirklich zu leben? Unbegrenzte Möglichkeiten, maximale persönliche Flexibilität und aufgehobene Tempolimiten auf der Lebensautobahn verheissen grösstmögliche Freiheit. Die Entscheidungsspielräume unserer Selbstverwirklichung sind permanent garantiert, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Jeder ist zu jeder Zeit an jedem Ort was und wie er sein will: wir sind kompromisslos selbstbestimmt. Aber werden wir dadurch nicht auch durch jeden beliebigen anderen austauschbar, identitätslos? Anders gefragt: Was zeichnet unser Leben denn noch aus und unterscheidet das ‹Leben› vom ‹Existieren›? «Scripted Life», am Theater Neumarkt uraufgeführt, sucht nach Sinn und Antwort in diesen Fragen.

Karina (Franziska Wulf) steigt aus. Jahrelang arbeitete sie als Schauspielerin, spielte, tanzte, weinte, flüsterte und schrie auf der Bühne; immer im Versuch, Figuren sich selbst einzuverleiben, nicht von ihnen einverleibt zu werden, immer mit dem Wunsch eines ‹Ichs›. Wenn aber nun jeder das ‹Ich› im vermeintlichen ‹Selbst› der Masse sucht, ist es vielleicht gerade deshalb nicht zu finden: «Es waren einfach zu viele» begründet Karina ihren Ausstieg und beschliesst von da an, sich zu verkaufen, oder besser: zu vermieten. Als «Schauspielerin für das eigene Leben» übernimmt sie von nun an das Leben der anderen. Ihre langen weissen Haare und Cyborg-ähnliches Auftreten lassen den Preis dafür erahnen.

Erfolgreich, ambitioniert und stets «mit der richtigen Haltung» störte sich Liebmann (Alexander Seibt) nie an einem fehlenden ‹Selbst› oder seiner Ersetzbarkeit. Im Gegenteil, Liebmann wusste um das glückliche Leben, das er in der Masse führte. Als er dann eines Tages einfach zuhause blieb, ausstieg, konnte er sich das folglich selbst nicht erklären. Eine gemietete Schauspielerin soll für ihn vorübergehend die Regie in seinem Leben übernehmen und ihm dadurch Zeit geben, im Drehbuch seines Lebens selbst wieder neue Wendungen zu veranlassen.

Wie will ich leben?

Das Projekt «Scripted Life» (Regie Katarina Schröter, Dramaturgie Daniel Lerch) lehnt sich an Motive von Andrej Tarkowski’s Sowjet-Filmklassiker «Stalker». Im Raum der Wünsche an der Chorgasse (Ausstattung Regula Zuber) hinterfragen die Spieler Lebensansichten und Weltbilder, lassen ‹Selbst› und ‹Fremd› kollidieren, verschmelzen und verlangen nach Entscheidungen. Dabei ist «Scripted Life» aber mehr als ein blosses Gedankenexperiment. Wenn Karina und Liebmann in kurzen Alltagsszenen das Leben zu fassen versuchen, führen sie den Zuschauern eine ungeahnte Realität vor Augen: Wie will ich eigentlich leben? Und wie lebe ich im Moment?

Gibt Liebmann der Schauspielerin Karina zu Beginn noch Regieanweisungen, wie sie ihn beim Frühstück verliebt anzuschmachten habe oder wie sie ihm beibringen solle, dass sie schwanger sei, entfernen sich seine Szenenanleitungen mehr und mehr von seinem eigenen Sein. Bald schon findet sich Karina in der Rolle seiner Sitznachbarin mit Flugangst oder einer Blumenverkäuferin wieder. Schliesslich gehen Liebmann selbst diese fremdartig wirkenden Szenenideen gänzlich aus. Das Leben ist durchgespielt und gibt für ihn nichts mehr her. Währenddessen mausert sich Karina von einer Statistin, über die Hauptrolle zur Solokünstlerin – längst hat sie ihr ‹Ich› abgestreift und sich Liebmann einverleibt.

Wenn ich du bin, was bist dann du?

Wenn Liebmann am Ende metaphysischen Selbstmord begeht, um selbst fortzugehen und das Leben eines anderen zu übernehmen, wird klar: Selbstbestimmung setzt Entscheidungsstärke voraus, Freiheit wiederum gibt es nicht ohne den dauernden Kampf und die nötige Kraft, alleine dazustehen – und Dinge zu tun, die eine Gesellschaft auf der Überholspur gar nicht mehr wirklich beherrscht, die sie längst verlernt hat. Leichter ist es dagegeb, sich unverbindlich mal alle Türen offenzuhalten, wegzugehen, wenn es zu viel wird, bloss keine endgültigen Entscheidungen zu treffen – und so sicher zu stellen, dass im Zweifelsfall wieder alles korrigiert und ungeschehen gemacht werden kann.
«Scripted Life» fühlt sich wie ein ganz reales Gedankenexperiment an. Es nimmt seinen Ausgangspunkt in uns allen und macht das Stück damit zu mehr als eben nur Theater. Die Uraufführung im Theater Neumarkt fühlt sich grossartig authentisch an und bleibt doch vielschichtig und komplex. Wie das Leben selbst, möchte man anfügen.

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