Der Ernstfall tritt ein

kulturkritik.ch - Bildmaterial zur Verfügung gestellt

Die Veranstaltung

Was: Rückzug
Wo: Zivilschutzanlage Baslerstrasse 37, Zürich
Wann: 30.05.2013 bis 02.06.2013
Bereiche: Gesellschaft, Theater

Der Autor

Christian Felix: Jahrgang 1960, arbeitet seit 2004 selbstständig als Drehbuchautor. Daneben schreibt er Reden, Buchkritiken, Zeitungs-/Magazinartikel, sowie Editorials (www.christianfelix.ch)

Die Kritik

Lektorat: Robert Salzer.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: Zürcher Hochschule der Künste (siehe Unabhängigkeit).

Von Christian Felix, 31.5.2013

Es regnet in Einem fort, und man ist froh, dass einen die Darsteller des Schauspiels „Rückzug“ in den Zivilschutzbunker bitten. Die Begründung: Wir üben den Ernstfall und wir machen uns mit der Bunkeranlage vertraut. Ernstfall. Das Wort bleibt mit dem kalten Krieg verbunden, mit dem immer wieder herbei fantasierten Überfall der Sowjetunion auf die Schweiz, mit Atomkrieg, Weltuntergang. Doch unter Tonnen teurem Schweizer Beton überlebt man selbst den. Das beweist die nun folgende Führung durch die Anlage.

Freiheit in Gefangenschaft

Allerdings überdauern die alten Vorstellungen vom Ernstfall die nächsten Minuten nicht. In der Eingangshalle ist ein alpines Landschaftsbild mit Geranienkästen davor aufgebaut. Ein Trachtenmann spielt Alphorn, eine Trachtenfrau zupft die Zitter. Heimatkitsch vs. Ernstfall. Geschützt wird im Bunker offenbar das, was man in urschweizerischer Mundart Swissness nennt, bedroht durch deutsche Invasoren, amerikanische Steuervögte und eurokratische Teufel. Gott sei Dank dürfen wir brave Schweizer uns durch ein Holzhäuschen in das innere des Bunkers zurückziehen.

Wir marschieren in Einerkolonne, werden in einem langen Durchgang eingeschlossen. Eine Zivilschützerin erklärt uns, dass es nun darum gehe, unsere Freiheit zu verteidigen. Dazu seien Disziplin, Gehorsam und Entbehrung notwendig. Sehr einleuchtend: frei sein heisst also sich der Bunkerordnung ganz zu unterwerfen, wenn nötig für viele Jahre (siehe Weltuntergang). Um keine falschen Sehnsüchte aufkommen zu lassen, müssen persönliche Gegenstände jetzt abgegeben werden. Nun ist es nicht mehr lustig. Ein mulmiges Gefühl beschleicht die Eingesperrten. Gefangenschaftssyndrome zeigen sich. Einige kichern komisch. Überall Panzertüren, Lackfarbe über Beton, Schleusen, Leuchtröhren, Lüftungsrohre. Und es wird verdammt eng, wenn, im ernstesten Ernstfalle hier 250 Menschen eingebunkert sind.

Ein einig Volk im Bunker

Die vierzig Besucher machen sich durch ihre Gefühlsregungen selbst zu Darstellern des Bunkertheaters. Das Schauspiel hängt eben so von ihnen ab wie vom Bunkerpersonal. Dieses verteilt sich, heisst die Besucher von Raum zu Raum zirkulieren, kommandiert sie herum. Alle Anwesenden als Ganzes sind das Theater. Sie spielen in einem realistischen Stück in einem sehr realen Raum mit. In diesem Punkt gelingt das Unternehmen „Rückzug“. Hier ist das Schauspiel stark, zumal die vorhandene Anlage dramaturgisch geschickt genutzt wird. Aus den Lüftungsrohren erklingen Schweizer Heimatlieder (D’Appizöller sönd loschtig… s’wott es Fraueli z’Märit gah…) – und die Sehnsucht – verkörpert durch einen Geigenspieler kriecht durch die Schächte. Sie erfasst selbst das energische Bunkerpersonal. Eine jede und jeder hat einen persönlichen Gegenstand hineingeschmuggelt. Damit rücken die Darsteller auf die Stufe der Besucher. Wir sind nun ein einig Volk von freien Schweizern. Eine nette Brasilianerin darf selbstverständlich dabei sein, darf sogar die Tagesordnung vorlesen, auch wenn sie niemand versteht: „Sibene Uhr, Fruggsetick fase…“

Das schwarze Schaf

Doch die Einigkeit ist von kurzer Dauer. Aus einem Schacht kriecht ein abgewiesener Asylant. Er hat sich hier als illegaler Bewohner eingenistet. Das geht gar nicht, denn es ist ja der Ernstfall eingetreten. Der Illegale wird, nach heftigem Streit, aus der Anlage gewiesen. Bei diesem und einigen weiteren inszenierten Ereignissen geht die Wirkung des Stücks etwas verloren. Seine Kraft beruht darauf, dass es stets auf der Kippe zwischen Schauspiel und Wirklichkeit balanciert. Obwohl an sich gut gespielt, wirkt die Asylantenszene in diesem Zusammenhang zu ausdrücklich. Dass Asylanten in Zivilschutzanlagen wohnen müssen, haben wir auch ohne diesen Auftritt begriffen.

Die Führung durch den Bunker lohnt sich trotzdem. Sie macht Lust auf mehr Theater an ungewöhnlich realen Schauplätzen. Hebt den Hintern von den Theaterstühlen! – möchte man am Ende ausrufen. Abgesehen davon haben die Beteiligten am Schauspiel die Anlage aufwändig und wirkungsvoll für das Theaterexperiment vorbereitet.

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