«Rosie» und zum Glück kein Heimatfilm

Die Veranstaltung
Was: Rosie
Wo: Solothurn
Wann: 28.01.2013
Bereich: Film+Fotografie
Der Autor
Christian Felix: Jahrgang 1960, arbeitet seit 2004 selbstständig als Drehbuchautor. Daneben schreibt er Reden, Buchkritiken, Zeitungs-/Magazinartikel, sowie Editorials (www.christianfelix.ch)
Die Kritik
Lektorat: Fabienne Schmuki.
Dieser Beitrag wurde durch eine Patenschaft ermöglicht. Herzlichen Dank (siehe Unabhängigkeit).
Von Christian Felix, 29.1.2013
Rosie ist böse, liebreizend, verschlagen, grossherzig, anspruchsvoll, kokett, durchtrieben, liebesbedürftig, herrisch, zärtlich, derb, treu… wunderbar! Es gibt selten Filme, die einer Figur und damit einer Schauspielerin (Sibylle Brunner) einen solchen Resonanzraum bieten wie «Rosie». Das Werk ist denn auch eine Hommage an die Mutter des Regisseurs Marcel Gisler.
Starke Figuren
Dabei bildet die «Mami» nicht einmal den Angelpunkt der Filmhandlung. Diesen Part spielt ihr Sohn Lorenz (Fabian Krüger). Er hält dem überwältigenden Auftritt der alten Mutter seinen melancholischen Blick aus dunklen Augen entgegen. Lorenz ist ein schwuler Schriftsteller in Berlin, dessen Romane und Liebschaften und sogar Bandscheiben sich mit 39 schon erheblich abgenutzt haben. Rosie bringt das auf den Punkt: «Und wenn’d erscht füfzgi bisch, und dich keine meh alueged?» Lorenz ist gebrochen und bricht nicht, tastet sich unsicher in der Handlung voran, entfaltet so seine volle Präsenz.
Eine Entdeckung ist Lorenz’ junger Geliebter Mario (Sebastian Ledesma). Kaum je in einem Schweizer Film spielte ein Schauspieler so glaubhaft und natürlich den jungen Typen wie er, spricht, wie solche Jungs eben sprechen. Die drei Figuren könnte auch ein Pedro Almodóvar gezeichnet haben.
Durchkomponierter Film
Marcel Gisler inszeniert seine Hauptfiguren fast wie auf einer Bühne. Sein Film bewegt sich nahe dem Theater. Nicht zufällig hat der Regisseur mit Sibylle Brunner eine Bühnenspielerin gewählt. Zudem arbeitet Gisler mit Vorhängen. Sieben Mal fährt Lorenz von Berlin nach Altstätten im St. Galler Rheintal. Er startet in Kreuzberg, reist Etappe für Etappe weiter – Avus – Schkeuditzer Kreuz – und kommt vor dem Schlussakt heim ins «Städtli». Diese Fahrten teilen den Film nicht nur in die klassischen acht Drehbuchsequenzen. Sie ermöglichen Ellipsen: Nach jedem Vorgang ist wieder so manches geschehen. Überhaupt erzählt Gisler, wo notwendig, schnell, hat den Mut zu Auslassungen. So gewinnt der Film einen einprägsamen Rhythmus.
Die Kamera (Sophie Maintigneux) nimmt an der Handlung teil, hat sozusagen ihre eigene Stimme. Oft ist sie unruhig, bringt damit ein Kribbeln in die Szenen. Dann wieder klebt sie die Figuren fast flächig vor einen Hintergrund und erschafft ein komponiertes Poster. Besonders auffällig sind ungewohnte Blickwinkel. Zuweilen ist die Kamera fast vom Geschehen ausgeschlossen. Der Ton (Reto Stamm) dringt dann nur noch halb durch. Das macht aus der Szene, in der die Mutter gegen alle Widerstände doch in ein Heim gebracht wird, eine allgemeine, immer wiederkehrende Tragödie alter Menschen. Der Hintergrundton ist bewusst eingesetzt, deutlich akzentuiert. Als Lärm eines Sägewerks wird er sogar explizit zur Vertonung des vertrackten Lebens von Rosies Tochter (Judith Hofmann).
Realismus
Formell und technisch ist «Rosie» ein eindringliches Kunstwerk. Dies gerade, weil die filmische Schönheit gebrochen wird. Die Aussicht ins Schneegebirge, das ach so grüne Rheintal, der Blick über den blauen Bodensee sind hier gewiss nicht Ausdruck von «Swissness» oder ähnlichem Stumpfsinn. Ganz und gar nicht. Der Bauer auf seinem schnuckeligen «Heemetli» ist schwul. Mami Rosie säuft und hat sich den Sex ausserhalb der Ehe geholt: «Es bitzeli Freud muess ja au no si.» Dies alles wird nicht als Skandal, sonders als Alltag in Szene gesetzt. «Rosie» und Rosie zeigen uns einen befreienden Realismus.
Der Film überrascht mit immer wieder neuen Wendungen und bringt einen zum Lachen. Sogar die Sexszenen, sonst eher Stolpersteine für Regisseure, gehen leichtfüssig über die Bühne. Nur der Handlungsstrang um den Vater misslingt. Der Film greift hier auf plumpe Erzähltricks zurück (Spuk!), um den toten Vater aufs Tapet zu bringen. Die angeblichen Geheimnisse in dieser Sequenz plappern die Figuren platt im Dialog aus. «Rosie» lässt sich jedoch nicht danach beurteilen, wie raffiniert in jedem Fall die Handlung geführt wird. Die Stärke des Films liegt eine Schicht tiefer. Die Heimkehr des verlorenen Sohns ist eine Reise nach innen, das Wiedersehen mit Rosie ein Blick in die eigene Seele. Damit erinnert der Film wiederum an Almodóvars «Volver»
Die Mutter-Sohn-Beziehung weist über sich hinaus. Sie umfasst ein grundlegendes Gegensatzpaar: Wiege und weite Welt, gestern und heute, Arbeitermilieu und Intellektuellenszene: «De erscht i de Familie, wo schtudiert hät!». In den allerschönsten Szenen des Films findet beides zusammen: Rosie und Lorenz zu zweit. Sie wechseln nicht viele Worte. Sie offenbaren in wenigen Gesten ein tiefes gemeinsames Grundverständnis. Die grosse Welt ist nicht nur in Berlin zu finden, sondern auch im Herzen einer einfachen alten Frau in Altstätten. Rosie ist wunderbar!