Zärtliches Entfesseln in ¡Átame!

kulturkritik.ch - Bildmaterial zur Verfügung gestellt

Die Veranstaltung

Was: Pedro Almodóvar: ¡Átame!
Wo: Filmfestival Locarno, Premi speciali
Wann: 07.08.2013 bis 17.08.2013
Bereiche: Film+Fotografie, Locarno Film Festival 2013

Filmfestival Locarno

Kulturkritik ist am 66. Filmfestival Locarno. Wir begleiteten das Festival und berichteten live.

Die Autorin

Sarah Bleuler: Wird ergänzt.

Die Kritik

Lektorat: Olivier Christe.

Von Sarah Bleuler, 23.8.2013

Am Filmfestival Locarno wurde die Schauspielerin Victoria Abril auf der Piazza Grande mit einem „Excellence Award Moët & Chandon“ ausgezeichnet. In diesem Zusammenhang zeigte das Festival Pedro Almodóvars ¡Átame!, in dem Abril die Hauptrolle der Pornodarstellerin Marina spielt. Der Film wurde 1990 kontrovers diskutiert und brachte Almodóvar unter anderem den Vorwurf der Frauenfeindlichkeit ein.

Marina (Victoria Abril) ist Pornodarstellerin und hat soeben ihren letzten Tag am Set hinter sich gebracht. Am selben Tag wird Ricky (Antonio Banderas) aus der psychiatrischen Anstalt entlassen und sucht Marina, mit der er ein Jahr zuvor schon einmal Sex hatte, in ihrer Wohnung auf. Er will sie davon überzeugen, ihn zu heiraten. Marina zeigt sich widerspenstig und so fesselt Ricky sie ans Bett, überzeugt davon, dass es nur seine Zeit brauche, bis sie dazu bereit ist. Er sollte Recht behalten.

¡Átame! heisst der Film von Pedro Almodóvar, der ihm 1990, nach seiner Premiere auf den Berliner Filmfestspielen, den Vorwurf der Gewaltverherrlichung und Frauenfeindlichkeit einbrachte. Almodóvar wurde in Berlin ausgebuht und in der feministischen Presse als Macho bezeichnet. Besser erging es ihm in seiner Heimat Spanien. ¡Átame! konnte da an die Erfolge seiner vorangehenden Filme La ley del deseo (1987) sowie Mujeres al borde de un ataque de nervios (1988) anknüpfen. Die spanische Presse feierte ¡Átame! als „zärtliche Liebesgeschichte“.

Fesseln und Frühstück am Bett
Der Filmtitel mag danach klingen, doch ¡Átame! (dt. Fessle mich!) ist in keiner Weise ein sadomasochistischer Film. Im Gegenteil: Ricky macht es ganz offensichtlich keinen Spass Marina an Händen und Füssen zu fesseln. Und als sie ihm zu verstehen gibt, dass das Pflaster, mit dem er jeweils ihren Mund verklebt, beim Ablösen schmerzt, besorgt er ihr ein anderes, das er zuvor an sich selbst testet. Und er befreit sie im Schlaf von den Fesseln, zärtlich, um sie nicht aufzuwecken. Ricky ist stets versucht, Marina ihre Gefangenschaft so „angenehm“ wie möglich zu gestalten. Als sie sich umzieht und sie ihm harsch befiehlt, es solle sich umdrehen, tut er es beschämt und entschuldigt sich. Er bringt ihr das Frühstück ans Bett. Er begibt sich in Gefahr, um ihr Drogen gegen ihre Zahnschmerzen zu besorgen, als die normalen Medikamente nichts nützen. Und er weint verletzt, als sie ihn zurückweist.

Almodóvar spielt auf paradoxe Weise mit der Grundsituation eines Psychodramas: Ein Verrückter hegt die Vorstellung, die Liebe einer Frau erzwingen zu können. Doch dann entpuppt sich der vermeintlich Verrückte als naiv, kindlich und nicht wirklich bedrohlich. Ricky verkörpert den beklemmenden Zustand des Liebenden, der unsicher ist, ob der (die) andere seine Gefühle richtig versteht. Almodóvar spricht mit viel Ironie über den Wunsch eines „normalen“, kleinbürgerlichen Lebens mit Familie, Job, Garten und Auto. ¡Átame! beschreibt damit einen konventionellen Wunsch an einem gleichzeitig unkonventionellen und fast schon absurden Beispiel. Doch genau im Paradox liegt die Komik des Werks.

Von Porno keine Spur
Gewaltverherrlichung, Pornografie, Frauenfeindlichkeit – vernichtende Vorwürfe, denen sich Almodóvar aussetzen musste. Dies besonders deshalb, weil der Regisseur mit ¡Átame! ja genau das Gegenteil bewirken wollte. Die schöne Szene, als Marina und Ricky zum ersten Mal miteinander schlafen, ist alles andere als pornografisch inszeniert. Die Kamera filmt die Darsteller, von einer Naheinstellung abgesehen, hauptsächlich in Grossaufnahmen. Ricky und Marina sind immer gemeinsam im Bild, nie wird jene voyeuristische Perspektive des Mannes eingenommen, die man dem Regisseur vorgeworfen hat. Die Lust sieht der Zuschauer hingegen in den Gesichtern, und die Liebesszene wirkt natürlich, zärtlich und fröhlich. Die beiden schlafen erst miteinander, als beide es wollen und beide erleben den Akt sehr bewusst. Die dominierende Rolle während dem Geschlechtsverkehr übernimmt schliesslich ganz klar: Marina.

In dieser und weiteren Szenen in ¡Átame! (und in zahlreichen anderen Almodóvar-Filmen) wird Almodóvars Frauenbild und sein Verhältnis zu Frauen geradezu offensichtlich. Sie sind für ihn keine Objekte der visuellen und körperlichen Begierde, vielmehr Subjekte der Identifizierung zu denen er eine tiefe und ehrliche Beziehung sucht. Er erkennt sich in ihnen wieder, und er interessiert sich für sie, weil er sich so auch mit sich selbst auseinandersetzen kann. Aufgrund dieses Interesses kam auch die Zusammenarbeit von Victoria Abril und Pedro Almodóvar in ¡Átame! zustande. Er war fasziniert von der „dunklen Seite“ der Schauspielerin und sie erschien ihm durch ihre „innere Heftigkeit“ ideal für die Rolle. Victoria Abril hat Almodóvars Filme zu Beginn der 90er Jahre entscheidend geprägt.

Frauen spielen starke Rollen
Frauen verkörpern in vielen Werken Almodóvars ein starkes Rollenbild und zeichnen sich oft nicht (nur) durch ihre Schönheit, sondern durch eine teils fast groteske Charakteristik aus. Schauspielerin Rossy de Palma zum Beispiel, die in ¡Átame! eine brutale Drogendealerin spielt, hat mit ihrer markanten Nase, den dunklen Augen und ihrem unvergleichbaren Gesichtsausdruck eine unheimlich starke Leinwandpräsenz.

Carmen Maura, Rossy de Palma, Penelope Cruz und Victoria Abril: Mit vielen Schauspielerinnen hat Almodóvar für mehr als einen Film zusammengearbeitet. Dadurch rückt er die Schauspielkunst der Frauen, die höchst unterschiedliche Rollen zu interpretieren haben, in den Vordergrund. Und oft ist die Selbstbehauptung vor dem männlichen Blick Thema der weiblichen Charaktere. Den Männern hingegen wird in Almodóvars Filmen selten eine subjektive Sicht eingeräumt.

Der Bruch mit dem Märchen
Am Schluss von ¡Átame! sitzt Ricky verloren mit seinem Walkman auf einer Burg, inmitten der Trümmer seines Heimatorts. Marina und ihre Schwester Lola brausen im Auto heran, und Marina rennt die Treppen zu Ricky empor. Die Prinzessin im blumigen Kleidchen fällt ihrem Prinzen in die Arme und erlöst ihn. Damit wird sie gleichzeitig zur Ritterin und Heldin und Ricky zum Geretteten. Almodóvar entpuppt sich damit einmal mehr als Meister im Aufbrechen von (Geschlechter-)Konventionen, wie sie uns beispielsweise aus dem Märchen geläufig sind. Und in der letzten Einstellung erfährt das märchenhafte Happy End seinen ironischen Höhepunkt: Lola als Familienoberhaupt nimmt Ricky offiziell in der Familie auf, und die drei fahren im roten Auto singend dem Sonnenuntergang entgegen.

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