Etwas werden, jemand sein

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Die Veranstaltung

Was: Nichts. Was im Leben wichtig ist
Wo: Theater der Künste, Bühne A
Wann: 08.03.2013 bis 06.04.2013
Bereich: Theater

Die Autorin

Nina Pulfer: Nina Pulfer (geb. 1980) studiert im Master Islamwissenschaft und Persisch.

Die Kritik

Lektorat: Fabienne Schmuki.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: Zürcher Hochschule der Künste (siehe Unabhängigkeit).

Von Nina Pulfer, 10.3.2013

Pierre Anthon, Schüler der Klasse 7A, steigt am ersten Schultag nach den Sommerferien mit seiner desillusionierten Einsicht, dass nichts irgendetwas bedeutet, auf einen Pflaumenbaum. Die MitschülerInnen, provoziert durch Pierre Anthons Erkenntnisse über die absolute Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz, fühlen sich herausgefordert, ihren Glauben an die Bedeutung der Welt zu verteidigen – koste es, was es wolle. Was harmlos beginnt, entwickelt sich, man ahnt es, zu einem Kraftakt, welcher mehr und mehr Opfer fordert und zusehends ausser Kontrolle gerät.

Schweizer Erstaufführung

Das Junge Schauspielhaus Zürich bringt die Schweizer Erstaufführung von Janne Tellers vielbeachtetem Roman «Nichts. Was im Leben wichtig ist» auf die Bühne. Das Buch, von der Kritik als brutal und mutig bezeichnet und bei seiner Erstveröffentlichung 2001 von den dänischen Schulbehörden verboten, wurde mittlerweile in 13 Sprachen übersetzt und ist auf europäischen Lehrplänen zu finden. So ist denn die Koproduktion des Jungen Schauspielhauses Zürich und des Departements Darstellende Künste und Film der ZHdK für Erwachsene und Jugendliche ab 13 Jahren konzipiert.

Der Berg der Bedeutung

Um dem Verweigerer Pierre Anthon das Gegenteil von dessen nihilistischen Äusserungen zu beweisen, schmieden die Jugendlichen einen Plan. In einem stillgelegten Sägewerk wollen sie einen Berg der Bedeutung errichten; einen Haufen, zu dem jeder sein Wertvollstes beitragen muss. Was das jeweils ist, wird von jemandem aus der Gruppe entschieden. Denn je schmerzhafter der Verlust, desto gewichtiger der Beweis für die Existenz von Bedeutung.

Als erstes wird ein Paar grüne Sandalen geopfert, gefolgt von Boxhandschuhen und einem Fahrrad. Doch solch käufliche Dinge verlieren nach kurzer Zeit ihre Substanz und schon bald muss Gehaltvolleres her: ein Hamster, die Leiche des kurz zuvor verstorbenen Bruders einer Schülerin oder das Kruzifix der örtlichen Kirche. Als auch diese materiellen Güter den Hunger nach Tiefe nicht mehr zu stillen vermögen, wird dem Klassenanführer eigenhändig ein Finger abgeschnitten und ein Mädchen vergewaltigt. Den Finger und das blutbefleckte Taschentuch platzieren die Jugendlichen triumphierend zuoberst auf dem Berg der Bedeutung, der nun Pierre Anthon vorgeführt werden soll. Doch dazu kommt es nicht, denn die Taten fliegen auf. Das Drama in der dänischen Kleinstadt löst neben Entsetzen auch das Interesse der internationalen Presse aus, worauf der Berg der Bedeutung von einem amerikanischen Museum für mehrere Millionen Dollar gekauft werden soll. Die Jugendlichen, vom Pathos ihrer eigenen Handlung ergriffen und erleichtert, endlich etwas und jemand zu sein, willigen in den Kauf ein. Und einmal mehr ist es Pierre Anthon, der ihnen ernüchternd direkt die Sinnlosigkeit ihrer ganzen Aktion vorhält. Er bezahlt dafür mit seinem Leben.

Virtuoses Spiel auf karger Bühne

Wie Regisseur Enrico Beeler und sein 7-köpfiges SchauspielerInnen-Ensemble Tellers verstörenden Stoff auf die Bühne bringen, verdient Beachtung – und Applaus! Die Bühnenadaption des Textes löste Beeler überzeugend: Mit nur sieben SchauspielerInnen – Nicolas Batthyany, Ann Kathrin Doerig, Timo Fakhravar, Lotti Happle, Fabian Müller, Christoph Rath, Ute Sengebusch – stellt er eine ganze Klasse dar. Sie schlüpfen elegant von einer Rolle in die andere, nehmen den Platz von Pierre Anthon ein, um im nächsten Moment Erzählstimme oder Klassenkamerade zu sein. Kleine Hilfsmittel wie Mütze oder Brille unterstützen den Wandel. Doch das Zentrale dabei ist die Sprache. Mit starker Präsenz bringen die SchauspielerInnen einen fast 90-minütigen, temporeichen Dialog auf die Bühne. Mal fein säuselnd, mal aus voller Brust schreiend, lassen sie ein grosses Können an sprachlichem Ausdruck und mimischer Variation erkennen und erzeugen damit eine subtile Spannung. Als Kontrast zum rationalen Sprechen vermittelt die starke Körperlichkeit des Spiels ein eindringliches Bild der inneren Zerrissenheit der Jugendlichen. Sie rennen an gegen die unüberwindbar hohen Wände, poltern auf den Tisch, krümmen sich auf dem Boden.

Das sehr schlicht gehaltene Bühnenbild von Marc Totzke bietet einen stimmigen Rahmen dafür. Die Bühne ist auf drei Seiten von einer sehr hohen Wellblechwand umgeben, auf dem Boden stehen ein paar metallene Tische und an der hinteren Wand ist ein Regal angebracht. Damit wird optisch dargestellt, was die Jugendlichen fühlen: eine kalte Umwelt, deren Konventionen und Erwartungen sie umschliessen. Der Pflaumenbaum – hier Inbegriff von Freiheit und Lebendigkeit – wird durch ein Mikrophon am äusseren Bühnenrand, ausserhalb der Wände, markiert. Denn wie in Italo Calvinos «Der Baron auf den Bäumen» ein gelangweilter Adelssohn den sozialen Erwartungen mit seinem Rückzug auf einen Baum den Rücken kehrt, so steht auch Pierre Anthon ausserhalb der Gesellschaft.

Die Tanzeinlagen der Klasse, choreographiert vom Breakdancer Buz und mit Nicolas Dauwalders Musik untermalt, vermitteln jugendlichen Übermut. Immer dann, wenn die Stimmung gelöst ist und die Jugendlichen sich als Gruppe fühlen, tanzen sie. Alle tanzen gleich, und zwar ungefähr so, wie man das momentan bei jeder Castingshow sieht. Aber eben nur ungefähr, denn die Bewegungen wirken eher wie eine Parodie darauf. Man könnte diese Tanzeinlagen als peinlich empfinden; oder aber als intimen Moment, in dem ungebändigte Energie mit jugendlicher Unsicherheit zusammenkommt. Ein Moment, in dem die jungen Menschen so sympathisch sind, dass man ihre hässlichen Abgründe gerne vergessen möchte.

Vielleicht wäre das Stück noch glaubhafter, wenn die Skrupel und Gewissensbisse der SchülerInnen noch deutlicher herausgearbeitet würden. Denn obwohl ihre Aktion für sie zu einem existentiellen Auftrag wird – einen Finger schneidet man nicht so sorglos ab. Oder doch? Ob dieser Kritikpunkt wirklich einem objektiven Wunsch nach mehr Realismus entspringt, oder aber der eigenen Hoffnung auf das menschliche Mitgefühl, vermag die Autorin hier nicht auszumachen.

Das Leben als Perfidie

Nach der Vorstellung bleibt die Frage, ob dieses Stück tatsächlich für 13-Jährige geeignet ist. Die Autorin jedenfalls verlässt den Saal ziemlich aufgewühlt und verstört, und ihre Gedanken kreisen noch lange um den Abend. Vielleicht ist diese Reaktion symptomatisch für Erwachsene – denn es ist schmerzhaft, wenn die sozialen Funktionsweisen, an denen man zumindest zu einem gewissen Grad teilhat, als bedeutungsloses Spiel entlarvt werden.

Das Stück handelt von Jugendlichen und ihren inneren Kämpfen im Laufe des Erwachsenwerdens, aber mitnichten nur davon. Man kann es auch als Aufforderung lesen, über (gesellschaftliche) Normen, über Erwartungen und den eigenen Umgang damit nachzudenken. Darüber, wie man seine Zeit verbringt und wofür man leidenschaftlich einsteht. Und nicht zuletzt über unsere Wünsche und die Perfidie, die wir zuweilen für ihre Verwirklichung entwickeln, um irgendwann etwas zu werden.

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