Vorstadtmief an der Sihl

kulturkritik.ch - Bildmaterial zur Verfügung gestellt

Die Veranstaltung

Was: Katzelmacher
Wo: Theater der Künste, Bühne B
Wann: 23.05.2013 bis 21.06.2013
Bereich: Theater

Die Autorin

Melanie Keim: Jahrgang 1987, studierte Germanistik und Philosophie und arbeitet als freie Journalistin.

Die Kritik

Lektorat: Stefan Schöbi.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: Zürcher Hochschule der Künste (siehe Unabhängigkeit).

Von Melanie Keim, 2.6.2013

Das Stück beginnt eigentlich schon vor der Premiere. Ein Duft zwischen Holz und Plastik liegt im Zuschauerraum in der Luft, ganz fein nur, aber eindeutig: es riecht nach Industrie, nach grauer Vorstadt. In diese Geruchskulisse hinein bricht nun der Lärm eines Akkuschraubers – und mit ihm die ganze Trostlosigkeit von Rainer Werner Fassbinders Katzelmacher.

Auf der Bühne steht ein bis zur Decke ragendes Baugerüst, unter dem ein Arbeiter Hocker zusammen schraubt, während sich über ihm Stücke abgesägter Baumstämme türmen und eine junge, aber gleichzeitig altmodisch verstaubte Frauengestalt ihre Hüften kreisen lässt. Es ist die Fabrik der Elisabeth (Laura Kolbe), die keine Arbeitskräfte vom Ort will, sondern Gastarbeiter oder eben «Fremdarbeiter», weil diese günstiger sind. Das Gerüst nebenan wird bald von diesen «Arbeitskräften vom Ort» bevölkert, von jungen Männern, die Bier verlangen und primitive Sprüche reissen, von Mädchen, die lasziv herumturnen und sich das Gegrabsche der Männer gefallen lassen. Junge Menschen, die in der Enge einer Vorstadt gefangen sind, in der Wörter wie «Abenteuer», «Liebe» oder «Anerkennung» keinen Platz haben. Und so stellen sie dem Erfolg der ranzigen Fabrikbesitzerin ihre gierigen Körper gegenüber, treiben es kreuz und quer miteinander, die einen für Geld, die andern umsonst, doch die Lust sackt Mal für Mal in stumpfe, vulgäre Leere zusammen. Der griechische Gastarbeiter Jorgos (Roger Bonjour) bietet der starren Gruppe, die keine eigene Geschichte zu erzählen hat, schliesslich ein echtes Feindbild. «Ein Ausländer ist das», schreien sie dem Typ im Anzug entgegen. Obwohl er mit dem Zitrusbäumchen und dem grossen Koffer doch ein Stück Welt in ihre öde Vorstadt bringt, aus der sie so gerne entfliehen möchten. Die bestehende Ordnung, und sei sie noch so verhasst, muss nun vor dem Eindringling beschützt werden. So finden der angestaute Frust und die Enttäuschung endlich ein Ventil und es beginnt eine irrationale Hetzjagd gegen den Fremden.

Hassen gelingt nicht

Fassbinders Katzelmacher kann schnell zum Bild werden, das der Zuschauer von weit her betrachtet, zur Gesellschaftsstudie, die scheinbar nichts mit dem gebildeten Theaterbesucher zu tun hat. Zu Beginn des Stücks gibt es solche Momente. Doch was zu dick aufgetragen scheint, wird mit der Zeit immer greifbarer. Hinter der Laszivität der Mädchen, dem Machogehabe der Jungen und der Biederkeit der Fabrikbesitzerin zeigen sich Figuren, die einem merkwürdig bekannt vorkommen. Dass für die anfängliche Distanz bald kein Platz mehr ist, ist auch der beeindruckenden Wucht zu verdanken, mit der einige der jungen Schauspieler der Zürcher Hochschule der Künste auftreten. Ja, es wird gespuckt und geprügelt, gegrabscht, gefickt und vergewaltigt, anders kann man es nicht sagen. So reitet ein splitternackter Franz (Felician Hohnloser) auf dem Buckel der Ingrid (Linda Lienhard), während diese in ein offensichtlich phallisches Mikrofon singt. Doch das Derbe, die nackte Haut ist für einmal nicht unnötige Provokation, keine Nacktheit um der Nacktheit willen, sondern die Verzweiflung eines jungen Mannes, der sich für einen kurzen Moment auf der Bühne der grossen Welt wähnt und ob sich selbst erschrickt, bevor er wieder in die Stumpfheit seiner Vorstadtrealität zurück fällt.

Man möchte die Figuren hassen, die da Beine spreizen und spreizen machen, Lügen verbreiten und Unschuldige verprügeln, um ihrer Unbedeutsamkeit zu entfliehen. Doch es gelingt nicht. Man kann den verachtenswerten, machohaften Anführer Erich (Dimitri Stapfer) nicht hassen, wenn er sich mit Dosenbier überleert, um seine Schuld und Scham abzuwaschen (eine Schuld, die er, sich selbst gegenüber und ebensowenig allen andern, nicht eingestehen kann). Man kann den Kraftprotz nicht hassen, wie er zitternd zur Ruhe kommt, während ihm das Bier noch aus dem Mund schäumt. Man kann auch Ingrid mit ihrem blauen Lidschatten und dem zu kurzen, goldigen Rock nicht verachten, die «weil ich bin anders als die andern», sagt – und sich dabei ihre behauptete Individualität nicht einmal selbst abnimmt. Durch Stapfers und Lienhards brillante schauspielerische Leistung tritt anstelle von Hass und Verachtung ein unangenehmes Mitgefühl.

Merkwürdige Aktualität

Fassbinders 1968 entstandenes Stück, das Marieluise Fleisser gewidmet ist und deren Fegefeuer in Ingolstadt von 1924 zum Vorbild hat, behält bei der Premiere an der Sihl eine merkwürdige Aktualität. Nicht weil der Gastarbeiter Katzelmacher aus Griechenland kommt und Ausländer und Reiche als Feindbilder benutzt werden. Sondern weil das YOLO (You only live once) der Jugendlichen am nahen Treffpunkt des Hauptbahnhofs nicht weniger verzweifelt klingt, als Ingrids «Man ist nur einmal jung».

Die irrationalen Abgründe dieser verlorenen Jugend, die sich auf der Bühne B des Theater der Künste zeigen, sind keine aus der Vergangenheit der Provinz ausgegrabenen – zu bekannt sind sie einem. Dass es ein zeitloses und damit ein doppelt hoffnungsloses Bild ist, das hier gezeichnet wird, macht auch der ewig drehende Akkuschrauber deutlich, der am Ende des Stücks gnadenlos weitersummt und den Faden der Fleisser so weiter in die Zukunft spinnt. Vielleicht hat der erbärmliche Franz ja recht: «Die Sachen sind so, wie sie sind, da kannst nichts ändern.»

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