In welcher Parallelgesellschaft lebe ich?

kulturkritik.ch - Bildmaterial zur Verfügung gestellt

Die Veranstaltung

Was: Die Lange Nacht der CH-Trilogie
Wo: Theater Neumarkt
Wann: 30.03.2013 bis 20.04.2013
Bereiche: Gesellschaft, Theater

Die Autorin

Patricia Schmidt: Jahrgang 1985, studierte Publizistik, Politik und Literaturwissenschaft in Zürich, arbeitet im Consulting.

Die Kritik

Lektorat: Stefan Schöbi.
Dieser Beitrag wurde durch eine Patenschaft ermöglicht. Herzlichen Dank (siehe Unabhängigkeit).

Von Patricia Schmidt, 3.4.2013

Als 2010 die WikiLeaks-Bombe mit abertausenden geheimen US-Dokumenten hochging, traf die Dreck- und Spucklawine der darin enthaltenden Kommentare die Politelite mitten ins Gesicht: Berlusconi «nutzlos und aufgeblasen», Sarkozy «dünnhäutig und autoritär», Kim Jong-il «ein schwabbeliger alter Sack» und Ahmadinejad gar «Hitler». Ja, und die Schweizer Politiker? Das Verhältnis zur Schweiz sei stets «herzlich, aber immer ohne jedwelche emotionale Bindung gewesen». «Höflich». Die Schweiz, sei – und genau das muss wohl der vernichtendste aller Kommentare in jenen geheimen Akten sein – «eine sehr erfolgreiche, aber auch frustrierende Alpenrepublik». Ist die Schweiz also tatsächlich so langweilig, dass es eigentlich absolut Nichts zu ihr zu sagen gibt?

Wer sind wir? Und wo bleibt der ganze Dreck? Das System «Swissness» – fair, präzise, zuverlässig, politisch stabil, natürlich, genau und sauber – müsste doch eigentlich Schutt und Schlamm ausfiltern? Seit fünf Jahren spüren Barbara Weber und Rafael Sanchez als Direktionsteam des Zürcher Neumarktes den Schweizer Eigenheiten nach und suchen nach dem Verborgenen, den Schattenseiten, aber auch dem Offensichtlichen und Klischierten. Zu ihrem Abschied ziehen sie an der «langen Nacht der CH-Trilogie» mit drei sehr unterschiedlichen Stücken noch einmal Bilanz.

Parallele Einsamkeit

Fulminant sind die Auftritte in «Expats» (Regie Barbara Weber). In hohen Schuhen, schicken Kleidern und Anzügen betritt und verlässt die Finanzelite von heute, im Takt der ständig klingelnden Mobiltelefone die Bühne. Zeitgleich werden Verträge mit Partnern in Hong Kong besprochen, Anweisungen gegeben und E-Mails nach Singapur, London und New York verschickt. Englisch, Französisch, Spanisch, Russisch, Chinesisch und Deutsch. Ein Leben auf der Überholspur – jung, dynamisch, lebenshungrig und risikoaffin.

Fulminant sind auch die Auftritte von Rahel Hubacher und Alexander Seibt in «Dr Madam ihre Mössiö» (Regie Bruno Cathomas), dem zweiten Stück des Abends. Auch hier geschieht alles gleichzeitig: Mit einer unglaublichen Präsenz und Lautstärke klagen, weinen, flehen, beschuldigen und rechtfertigen sich die Ehepartner vor einander und vor sich selbst. Die Ehe ist hin, die Arbeitslosigkeit zehrt an ihnen, die familiären Umstände sind trist und kindliche Traumata, der Missbrauch und das Ritzen tun ihren Rest. Dass sie dabei in indirekter Rede sprechen, löst ein Gefühl von Gewesenem aus, als wäre es für sie schon zu spät – ein Leben in einer Sackgasse.

So unterschiedlich sich die Stückangaben zu «Expats» und «Dr Madam ihre Mössiö» auch lesen – beide Stücke sind doch gleich zu verorten. Beide erzählen von Menschen, die versuchen, ihr Leben in ein gesellschaftlich vorgegebenes Muster einzuordnen, die durch das Raster fallen und sich darin verlieren: «Das kannst du sofort mitschreiben: Es ist fast unmöglich hier einen Schweizer Freundeskreis aufzubauen» heisst es etwa in «Expats», oder: «und dann als er im Gefängnis war… sie könne ja unmöglich mit 50 Franken drei Wochen lang überleben», erzählt «Dr Madam ihre Mössiö» – zwei Parallelgesellschaften, eine vom Schweizer System als fremdartig ausgeschlossen und die andere als gescheitert ausgestossen.

Und als Rahel Hubacher das Wenige, was sie noch besitzt in jenen Raum (welcher selbst zum Schluss des vorhergehenden Stücks wie ein Ikea-Regal auseinandergebaut wurde, fast so, als wäre das Leben, das man zurücklässt, um in die nächste Finanzmetropole zu jetten, nicht von Bedeutung…) und sich dabei am Tisch festklammert, wird klar, dass hier oben und unten, «erfolgreich» und «frustriert» allesamt abseits einer funktionierenden Gesellschaft befinden.

Erzwungenes Zusammengehörigkeitsgefühl

Als letztes tritt Mike Müller auf die Bühne – nicht fulminant, nicht laut, nicht leise und ohne viel Drumherum. Mit Videosequenzen aus Interviews mit Rekruten, Politikern, Historikern, Schweizer Persönlichkeiten und mithilfe von Fernsehbeiträgen zur Volksabstimmung zur Abschaffung der Armee im Jahre 1989 hinterfragt Müller in «Truppenbesuch» (Regie Rafael Sanchez), dem letzten Stück des Abends, eine dritte Schweizer Parallelgesellschaft: die Schweizer Armee.

Was heisst es eigentlich, einem Land zu dienen, das nicht in den Krieg zieht? Wie ist es, Freunde, Partner und Familie zurückzulassen, um sich mit fremden Männern achtzehn Wochenlang im Dreck zu wälzen? Und inwiefern toleriert die Wirtschaft eine solche Investition der eigenen Lebenszeit im Zeitalter der globalisierten Bildungselite? «Ob die Armee einem etwas bringt, weiss ich nicht – hier geht es nicht um ‚ich will’ sondern um ein ‚jetzt muss ich halt’» zitiert Müller mit gewohntem Witz einen Rekruten, der jenem Drittel aller Schweizer Männer zugehört, welche ab ihrer Militärtauglichkeit dem Schweizer Milizsystem unterordnet sind. Es entsteht eine eigene kleine Gesellschaft, aus wild zusammengewürfelten Rekruten, die nur eines gemein haben: sie alle wollen wohl nicht, müssen aber. Und was meinen jene, die eine solche Parallelgesellschaft erschaffen? «Die Armee bildet nicht die Gesellschaft ab. Sondern wir probieren, in diesen kurzen achtzehn Wochen gewisse Defizite der Gesellschaft zu korrigieren», poltert Müller als Oberst ins Mikrofon – inwiefern die somit «korrigierten Defizite» von einer Parallelgesellschaft in die Schweizerische Gesellschaft übertragbar sind, lässt er hingegen offen.

Parallelität und Zusammengehörigkeit

Die Frage, wie die Schweiz, bestehend aus sechsundzwanzig teilsouveränen Kantonen, in welchen vier anerkannten Landessprachen gesprochen werden, eine einzige Nation, eine Kultur, eine Mentalität, eine Gesellschaft zusammenhalten kann, wurde schon oft gestellt. Die Aussage, dass die Schweiz wirtschaftlich extrem erfolgreich und dabei durchorganisiert bis in die Knochen sei, schon oft gemacht. Nach rund sechs Stunden verlässt man das Theater Neumarkt trotz allem mit einem erneuten Bewusstsein, das die Opfer, welche dieser Erfolg, dieser Reichtum und diese Administration fordern, dass also diejenigen, die vom System ausgesiebt werden, gar nicht so anders sind als man selbst. Und in welcher Parallelgesellschaft lebe ich? – eine solche Selbstreflexion auszulösen, das schafft nur ein grossartiger Theaterabend.

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