Wachtmeister Studer an der Criminale 2013

kulturkritik.ch - Bildmaterial zur Verfügung gestellt

Die Veranstaltung

Was: Criminale 2013
Wo: Solothurn
Wann: 17.04.2013 bis 21.04.2013
Bereiche: Gesellschaft, Literatur

Der Autor

Christian Felix: Jahrgang 1960, arbeitet seit 2004 selbstständig als Drehbuchautor. Daneben schreibt er Reden, Buchkritiken, Zeitungs-/Magazinartikel, sowie Editorials (www.christianfelix.ch)

Die Kritik

Lektorat: Stefan Schöbi.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben vom Migros-Kulturprozent (siehe Unabhängigkeit).

Von Christian Felix, 22.4.2013

Das 75. Todesjahr des Schriftstellers Friedrich Glauser hat die Criminale zum ersten Mal in die Schweiz geführt. Die Criminale ist das jährliche grosse Treffen von Krimiautoren, Verlegern und den Liebhabern des Kriminalromans im deutschsprachigen Raum. An der Criminale wird jeweils der Friedrich-Glauser-Preis verliehen, unter anderem für den besten Kriminalroman. Der Schauplatz der Veranstaltung verteilte sich dieses Jahr auf Bern, Solothurn, Thun und weiter Orte im westlichen Schweizer Mitteland. In dieser Gegend war Glauser mehrfach in Anstalten verwahrt, hier liegen einige Schauplätze seiner Krimis. Zudem lebte Wachtmeister Studer, der von ihm erschaffene Polizeikommissär, in Bern.

Ein armer «Chejb»

Im Roman «Wachtmeister Studer» besucht der Kommissär den Schlumpf Erwin in seiner Gefängniszelle, einen verzweifelten Burschen, der anscheinend einen Mord begannen hat. Studer hat Mitleid mit dem Erwin. Er kann aber wenig Entlastendes für den armen Teufel finden. Studer geht, kehrt mit einem mulmigen Gefühl in die Zelle zurück – gerade noch rechtzeitig. Erwin hat sich am Zellenfenster aufgehängt. Studer holt ihn runter, schüttelt ihn ins Bewusstsein zurück und flösst ihm aus seinem Flachmann Cognac ein.

Auch Glauser selbst war eine armer «Chejb», so wie der Bursche im Roman, der sich in seiner Trostlosigkeit umbringen will. Der Autor über sich selbst: «1896 geboren in Wien von österreichischer Mutter und Schweizer Vater. (…) Volksschule, 3 Klassen Gymnasium in Wien. Dann 3 Jahre Landerziehungsheim Glarisegg (Thurgau)». – Die Mutter starb, als Glauser vier war. Der Vater liess ihn bevormunden. Ab 1920 folgte ein steter Wechsel zwischen Internierung in «Irrenhäusern», dann wieder Flucht oder Entlassung, Gelegenheitsjobs. Der Autor lebte kurz in Paris und Belgien, als Tellerwäscher und Kohlengrubenarbeiter, diente 1921–23 in der Fremdenlegion. In Nordafrika lernte Glauser Haschisch kennen, in der Schweiz wurde er morphiumsüchtig. Bei einer Verhaftung wegen Morphiumbesitzes unternahm er einen Selbstmordversuch.

Gott Detektiv

Diese Hintergründe deckt die Germanistin und Glauser-Expertin Christa Baumberger an der Eröffnung der Criminale in Solothurn auf. Sie hat Ausschnitte aus Briefen von Glauser zusammengestellt, die Laszlo Kish, der erste Schweizer Tatort-Kommissar, vorträgt. So entsteht ein lebendiges Bild des Schriftstellers. Es hilft, die geschilderte Romanszene klarer zu deuten. Der Wachtmeister ist ein gestandener Mann, er hört er zu, er hat Geduld, handelt nach seinem Gefühl, was Irrtümer nicht ausschliesst. Studer rettet er den hilflosen Gefängnisinsassen, der selbst nicht mehr an sich glaubt. So erschafft sich Glauser seinen Übervater, eine Art Gottesersatz.

Damit sind wir mitten in der Psychologie des Kriminalromans. Im Krimi steht das reale Leben Kopf. Während im Chaos und im Leiden der Welt Gottes Gerechtigkeit nichts mehr zu richten vermag und Mörder statt verurteilt reich und mächtig werden, findet im Kriminalroman der Detektiv unfehlbar den Schuldigen. Das Unrecht wird gesühnt, wie in der Bibel. Der Kommandant der Kantonspolizei Solothurn, Thomas Zuber, kann sich an der Eröffnung der Criminale einen leisen Spott darüber nicht verkneifen. Wie einfach funktioniert im Krimi zum Beispiel eine Beschattung! Wie anders sieht es in Wirklichkeit aus!

Krimi ab dem Fliessband

Weil das psychologische Muster des Krimis – wenigstens im Grundsatz – sehr einfach gestrickt ist, werden Kriminalromane oft serienweise herunter geschrieben, von vielen Autoren unter demselben Künstlernamen. Dies wird an einer anderen Veranstaltung deutlich. «Wie wir wurden, was wir sind». Im Berner Hotel Alpenblick erläutern die Krimiautorin Almuth Heuner und der der Autor H. P. Karr «die Entwicklung des deutschsprachigen Krimis seit 1945». Was sich etwas theoretisch anhört, wird kurzweilig und humoristisch vorgetragen.

Der Kriminalroman ist kein in Deutschland verwurzeltes Genre. Die Leserinnen und Leser in Deutschland lernten den Krimi über britische und amerikanische Vorbilder kennen. Mord- und Detektiv-Geschichten wurden ab 1945 so sehr mit der angelsächsischen Welt verbunden, dass deutsche Autoren unter englisch klingenden Pseudonymen wie zum Beispiel Jerry Cotton schrieben. Auch die Handlung spielte oft irgendwo weit weg von Deutschland. Der DDR-Autor Erich Loest lässt seine Handlung im Londoner Wimbley-Stadion spielen, ohne dass er je dahin hätte reisen können. Veröffentlicht wurden diese Krimis als Heftserien oder Fortsetzungsreihen in Zeitschriften. Bis in die 1970er oder 80er Jahre hinein gab es in Deutschland kaum Krimis von literarischem Gehalt – ganz im Gegensatz zur Schweiz.

Wo Tulpen in Reih und Glied stehen

Damit wird die Bedeutung von Friedrich Glausers Werk deutlich. Zwar verfasst auch Glauser seine Krimis, um in seiner Not Geld zu verdienen. Und auch die Studer-Romane erscheinen zum grossen Teil als Fortsetzungsromane. Doch Glauser hat mehr im Sinn mit seinem Studer. Er will eine Botschaft transportieren. Er begleitet den Wachtmeister in die Welt der Anstalten, der Armenhäuser, zu gescheiterten Existenzen und randständigen Figuren. Damit zeigt er eine Schweiz, die nichts mit dem bis heute propagierten urtümlichen Bauern und Hirtenland zu schaffen hat. «Die Tulpen stehen in Reih und Glied», heisst es in «Wachtmeister Studer». Der Ort: ein nichts sagendes deprimierendes Kaff irgendwo an der Bahnachse durchs Mittelland. Die Bewohner pendeln auswärts zur Arbeit, damals schon, in der 1930er Jahren.

Für seine Sichtweise auf die Wirklichkeit wählt Glauser die «einfachen Leute» als Zielpublikum. Literarische Kreise und die Literaturkritik interessierten ihn nicht. Auf diesem Weg schuf Glauser die ersten deutschsprachigen Kriminalromane mit literarischer Qualität und wurde zu einem der bedeutendsten Schweizer Schriftsteller. Friedrich Dürrenmatt stellte sich später in seine Tradition, mit seinem Kommissar Hans Bärlach und dem Schauplatz Güllen. Heute vertritt unter anderen Hansjörg Schneider mit seinem Hunkeler den literarischen Schweizer Kriminalroman. Der hervorragende gemachte Dokumentarfilm über Friedrich Glauser, der sein Leben und Werk erkundet, verdient hier nochmals eine Würdigung. Er wurde in Solothurn gezeigt.

Die Wahl des westlichen Mittellands für die Criminale 2013 ist mindestens punkto Glauser ergiebig. Die Schauplätze seines Lebens liegen auf dem Präsentierteller, so etwa die «Irrenanstalt» Waldau in Bern. Die Ausstellung zur Geschichte der Psychiatrie an diesem Ort lässt einen erahnen, wie von Gott und Mensch verlassen sich die Insassen fühlen mussten. In einer solchen Anstalt schrieb Glauser auch sein bedeutendstes Buch: Den Fremdenlegionsroman «Gourrama». Das führt zum Gewinner des Glauser-Preises 2013, Roland Spranger. Er erschafft in seinem Krimi «Kriegsgebiete» die Figur eines Soldaten, der traumatisiert von aus Afghanistan zurückkehrt. Etwa auch ein armer «Chejb»?

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