Verführung in der Brockenstube

kulturkritik.ch - Bildmaterial zur Verfügung gestellt

Die Veranstaltung

Was: Cabaret brise-jour et autres manivelles – L’Orchestre d’Hommes-Orchestres
Wo: Theater Spektakel, Seebühne
Wann: 19.08.2013 bis 21.08.2013
Bereich: Theater Spektakel 2013

Theater Spektakel

Kulturkritik ist Partner des Theater Spektakels 2013. Wir begleiteten das Festival und berichteten live.

Die Autorin

Antonia Steger: Jahrgang 1988, studiert Germanistik und Kulturanalyse im Master, arbeitet daneben im Ausstellungsbereich (Kommunikation/Redaktion).

Die Kritik

Lektorat: Robert Salzer.

Von Antonia Steger, 21.8.2013

Das Ensemble steht schon auf der Bühne, bevor das Stück beginnt. Betont lustlos warten die Darsteller, schalten eine Lampe an und aus. Drehen am Grammophon. Gähnen. Fliessend ist der Übergang zum Anfang. Doch so kalt ihre Mimik schaudern lässt, so sprudelnd erwecken sie ihre Kreativität: L’Orchestre d’Hommes-Orchestres (kurz LODHO) mit ihrem kuriosem Programm zwischen Theater und Liederabend.

Die Grundlage dieses amüsanten Versuchslabors sind Lieder von Kurt Weill – dem jüdischen Komponisten, der u.a. mit Bertold Brecht die «Dreigroschenoper» schuf und ab 1933 im Exil in Paris und Amerika schliesslich grossen Erfolg am Broadway erfuhr. Melancholisch, gesellschaftskritisch und mit der gebrochenen Reibung der Moderne, so tragen die Lieder eine eigene Handschrift.

Theatralische Musik

Doch LODHO geht es in ihrem Stück «Cabaret brise-jour et autres manivelles» nicht um eine Vorführung dieser Musik, sondern vielmehr um eine Verführung durch dieselbe. Die herrlich überladene Bühne – eine Mischung aus verrauchter Liederbar und kurioser Brockenstube – bietet genügend Möglichkeiten dazu. Jedes Telefon, jeder Besen wird zum Instrument. Aus allen Ecken tauchen bizarre Instrument-Erfindungen auf, die den übersprudelnden Erfindergeist des Ensembles bezeugen. Oder wer hätte gedacht, dass man aus Blockflöten die faszinierendste Science-Fiction-Leuchte basteln könnte?

Der Liederabend ist nicht nur Musik, sondern auch betont körperliches Theater. Wenn das Vibrato klassischer Gesangsdarbietungen persifliert werden soll, dann geschieht dies urkomisch mit einer Sängerin auf einem vibrierenden Stuhl oder bedrohlich durch eine Männerhand, die sich vibrierend auf die weissen Kehlen der Sängerinnen drückt.

Der Mann mit rot lackierten Nägeln

Subtil werden auch Geschlechterfragen verhandelt. Da pflückt ein Mann alle Perlenketten von den Frauen ab, um sie sich teils in den Mund zu stopfen, teils selbst überzustreifen. Er lackiert sich die Nägel rot, zieht Ohrringe an. Zwei andere Männer beginnen sich wild zu umarmen, in ihrer Mitte zwei zusammengeschweisste Mundharmonikas, auf denen sie sich gegenseitig Musik ins Gesicht blasen. Gerade in Zeiten homophober Entwicklungen in Russland, welche die immer noch bestehende Angst vor dem geschlechtlich Andersartigen deutlich machen, erhalten solche Bilder eine unaufgeregte Brisanz.

Die Frauen bleiben hingegen seltsam farblos. Als ruchlose Verführerin, narzisstische Schaufensterpuppe und naives Kulleräugchen bieten sie keine Grenzüberschreitungen, die nicht schon in vielen Klischees bekannt wären. Und doch bleibt eine Szene besonders im Gedächtnis: Die Sängerin steht in Unterwäsche stoisch an ihrem Mikrofon, während sie mit Kleidern beworfen wird. So verschwindet sie langsam unter dem Textilberg, wo sie als körperlose Stimme weitersingt. Die Identitätsfindung über Aussehen wird in dieser Szene skurril ironisiert, bis unter der angehäuften Oberfläche kein Mensch mehr übrig bleibt.

Weisser, hagerer, wunderbarer Blues

In einem der berührendsten Momente jedoch setzt die Theatralik fast vollkommen aus. Das Orchester steht ruhig im Hintergrund, spielt erstaunlich handelsübliche Instrumente. Nur in der Mitte steht eine hagere Männergestalt, die im Nachthemd zu singen beginnt. Die weisse Brust sticht knochig über den zu weiten Ausschnitt hinaus, Augen kullern und Glieder verrenken sich wie im jahrzehntealten Drogenrausch. Doch dann setzt dieser dürre Mann mit einer Stimme an, die augenblicklich an einen alten, wunderbaren Blues-Sänger gemahnt. Wunderschön rauchig strickt das Lied einen belebten, dunklen Körper um die Hagerkeit des Mannes herum, der durch ironische Übertreibung jedoch gleich immer wieder abfällt.

Dieser grandiose theatralische Liederabend begeistert. Er bietet Unterhaltung auf höchstem Niveau und in seinem humorvollen Einfallsreichtum auch manches Augenzwinkern, das Gedanken anstösst, welche auf dem Nachhauseweg noch nachhallen.

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