Die Opulenz implodiert – Der «Neo-Giallo» ist da

kulturkritik.ch - Bildmaterial zur Verfügung gestellt

Die Veranstaltung

Was: Bruno Forzani und Hélène Cattet: L’Étrange Couleur des larmes de ton corps
Wo: Filmfestival Locarno, Concorso Internazionale
Wann: 12.08.2013
Bereiche: Film+Fotografie, Locarno Film Festival 2013

Filmfestival Locarno

Kulturkritik ist am 66. Filmfestival Locarno. Wir begleiteten das Festival und berichteten live.

Die Autorin

Nina Laky: Jahrgang 1988. Arbeitete für Radio 3FACH oder für das Kulturmagazin. Studiert ab 2013 publizieren & vermitteln an der ZHDK.

Die Kritik

Lektorat: Miriam Suter.

Von Nina Laky, 18.8.2013

Das Regisseuren-Duo Hélène Cattet und Bruno Forzani erfinden in «L’Étrange Couleur des larmes de ton corps» das Kultgenre «Giallo» neu. Der Film ist eine avantgardistische Fortsetzung des italienischen Thrillers und geht technisch bis an die Schmerzgrenze, dabei rückt der Plot in den Hintergrund. Trotzdem ist ihr Konzept aus heutiger Sicht aufgegangen.

Kaleidoskopische Drehungen, schnelle Schnitte, Rückblenden, Vorblenden, Schreie, Perspektivenwechsel, Sex und Sirenen. Der Zuschauer muss sich konzentrieren, nicht den Faden zu verlieren, vor der Fülle zu kapitulieren und raus in die Realität zu flüchten. Für Fans des Kultgenres «Giallo» mag «L’Étrange Couleur des larmes de ton corps» (Englisch «The Strange Color Of Your Body’s Tears») ein einzigartiges Schmuckstück sein. Für andere bleibt der gewaltige Film rätselhaft.

Die Reizüberflutung löst die Story auf

Die Geschichte des Filmes ist kompliziert. Dan (Klaus Tange), der von einer Geschäftsreise nach Hause kommt, stellt fest, dass seine Frau Edwige verschwunden ist. Der Name der Figur ist zweifellos eine Hommage an die Schauspielerin Edwige Fenech, die mit «Lo strano vizio della signora Wardh» (1971) Kultstatus erreichte. Auf der Suche nach Edwige begegnet Dan in seinem Haus mehreren kuriosen Gestalten. Hat jemand Edwige umgebracht? Wer weiss mehr über ihr Verschwinden? Woher kommen die Stimmen hinter den Wänden? Ein Privatdetektiv (Sam Louwyk) soll die Sache richten.

Die Suche ist für das Publikum mysteriös und schmerzvoll. Zum Beispiel wenn Dan aufsteht, weil es klingelt. Eine banale Szene, die Cattet und Fonzani gnadenlos ausreizen. Das Klingeln ist nicht etwa eine normale Türklingel, sondern ein lauter Buzzer. Vor der Türe sieht Dan sich selbst, er bittet sich um Einlass. Die Szene wiederholt sich traumähnlich immer wieder, immer wieder. Diese Angst, dieser Buzzer, diese Farben, das Blut, das Leder, die Narben, der Kopf von Edwige im Bett, die rätselhafte Frau im roten Kleid, die Stimmen hinter der Wand und wieder diese Angst und wer zur Hölle ist Laura?

Nebst dem inszenierten Überdruss zieht sich ein Motiv sich durch den ganzen Film: Die Frauenfiguren und Opfer haben allesamt braune, lange Haare. Das führt mitunter zu Verwechslungen, die Frauen sehen sich durch die schnellen Schnitte und der nicht linearen Erzählweise alle ähnlich. Das Haar ist intimes Objekt der Begierde. Die raffinierten Jugendstil-Zeichnungen an den geheimnissvollen Wänden in Dans Haus unterstützen dieses Frauenbild fortlaufend. Jean Renoir hat bereits 1926 in «Nanà» dem Frauenhaar im Film zum ersten Mal vielfältige Bedeutungen zugemessen. Ihm folgten Luis Bunuel («Ein andalusische Hund»), Igmar Bergmann («Monika») und Jean-Luc Godard («Une femme mariée»), die sich im Laufe ihrer Karriere als Liebhaber der weiblichen Haarpracht outeten.

Die «Giallo»-Anleitung

Schon bei ihrem Erstling «Amer» aus dem Jahr 2009 haben sich die Freunde Hélène Cattet und Bruno Forzani aus Brüssel an das italienische Kino der 60er und 70er angelehnt. Genauer an ein Subgenre des Thrillers, an den «Giallo».
Für einen richtigen «Giallo» gibt es mehrere dramaturgische und gestalterische Codes: Knallige Farben sind ein Muss, die Erotik ist explizit, die Soundeffekte schrill, der Mörder trägt einen Hut und schwarze Lederschuhe und die weiblichen Opfer sind schön und jung. Themen wie Paranoia und Entfremdung ziehen sich durch.

Als erster «Giallo» gilt heute «The Girl Who Knew Too Much» (1963) von Mario Bava, der auf Alfred Hitchcocks «The Man Who Knew Too Much» (1956) basiert. Regisseure wie Bava, Dario Argento oder Umberto Lenzi bezogen sich in ihren Werken meist auf grosse Literaturklassiker von Agatha Christie, Ed McBrain oder Edgar Wallace. Sie legten mit ihren Produktionen den Grundstein für spätere Slasherfilme wie «Scream» oder «I Know What You Did Last Summer», die in den 90ern grosse Erfolge feierten. Cattet und Forzani haben vierzig Jahre später den «Giallo» aus der Versenkung geholt. Die Arbeit zu «L’Étrange Couleur des larmes de ton corps» hat neun Jahre gedauert.

Experiment gelungen, Spannung dahin

Die grosse Ära des «Giallo» ist jedoch vorbei. Das können auch Cattet und Fonzani mit ihrem ambitionierten Versuch nicht ändern. Ihre Ästhetik nimmt den Charme und die Bescheidenheit von damals nicht au und das Wort Nervenkitzel haben sie zu wörtlich genommen. Der Überdruss an visuellen und akustischen Einflüssen geht nicht nur auf Kosten der Geschichte, sondern macht aus erotischen Szenen sterile Einblicke in die Vorgehensweise des Mörders. Wenn die Klinge über die Brustwarze streift und dabei jede Berührung zu hören ist, verwahrlost die Fantasie. Die früheren «Gialli» sind zurückhaltender und lassen den Gedanken mehr Spielraum, sind darum letztendlich auch ein wenig grusliger. Die Story verliert durch die permanente Reizung der Sinne an Spannung und Relevanz.

Die Architektur der Räume in der sich der Film bewegt (und das sind wenige) ist jedoch herausragend! Zwischen blinkend grünen, roten, blauen und gelben Farbbildern fungiert das imposante Art-Déco Haus und die kunstvoll tapezierten Wände als Auffangbecken für visuell erschöpften Zuschauer.

Die Erinnerungen an den Kinobesuch sind aufgrund der Schnelligkeit des Werkes fragmental. Er ist eine Herausforderung und das macht ihn interessant. Doch der Inhalt verliert an Bedeutung, das ist schade, denn wirkliche Spannung kommt nicht auf. Weniger ist mehr, möchte man sagen. Das wäre aber nicht im Sinne des «Neo-Giallo». «L’Étrange Couleur des larmes de ton corps» ist schnell, bunt, übertrieben, laut und spiegelt im Jahr 2013 das Genre somit zeitgemäss wieder.

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