Polyphonie des Wahnsinns

Die Veranstaltung
Was: Bea von Malchus: Shake Lear! Greise - Wahnsinn - Shakespeare
Wo: Im Hochhaus
Wann: 18.01.2013
Bereich: Theater
Der Autor
Nicolas Bollinger: Jahrgang 1984. Schreibt für das Bieler Tagblatt. Studierte Philosophie und Germanistik an der Universität Bern und derzeit Journalismus am MAZ Luzern und an der Henri-Nannen-Schule in Hamburg.
Die Kritik
Lektorat: Fabienne Schmuki.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben vom Migros-Kulturprozent (siehe Unabhängigkeit).
Von Nicolas Bollinger, 21.1.2013
Bea von Malchus dekonstruiert Shakespeare – und das saukomisch
Eine leere Bühne, ein Hocker vor einem dunkelroten Samtvorhang. Mehr bekommt der Zuschauer im Hochhaus am Limmatplatz anfänglich nicht zu Gesicht. Mehr als dieses minimalistische Setting benötigt Bea von Malchus für ihr Solostück Shake Lear! Greise. Wahnsinn. Shakespeare auch nicht. King Lear, William Shakespeares düsterste Tragödie quasi als zweistündigen Monolog zu inszenieren erfordert offenkundig ein zu grosses Mass an dramaturgischer Verwegenheit, so dass ein Scheitern fast unausweichlich scheint. Sollte man meinen, denn von Malchus belehrt uns eines Besseren, indem sie die Ernsthaftigkeit der literarischen Motive – Rache, Intrige, Schrecken, Leid, Elend, Wahnsinn – in so einfallsreicher wie bösartig gewitzter Weise untergräbt und auflöst. Der Wahnsinn wird zum dominanten Topos, birgt er doch ein schier unerschöpfliches Potential an Komik.
Narrenfreiheit
Von Malchus verweigert dem Zuschauer einen objektiven Blick auf die Handlung und lässt den Narr erzählen; von Anfang an ist man ausschliesslich an seine Perspektive gebunden. An eine Sichtweise, die meisterhaft einen zentralen Charaktertypus des elisabethanischen Theaters in seiner ganzen ihm innewohnenden Ambivalenz repräsentiert: Der Narr als schalkhafter Spassmacher, Imitator und Geschichtenerzähler; der Narr als der Irrsinnige, Unerwünschte, Stigmatisierte, von der Gesellschaft Ausgestossene. Indem man einzig ihn sprechen lässt, verleiht man dem Wahnsinn eine Stimme und ermöglicht dem Verdrängten eine Wiederkehr.
Und wahrhaftig, von seiner Narrenfreiheit ausführlich Gebrauch machend, treibt der Schalk seinen Schabernack mit der literarischen Vorlage. So mag von Malchus, bzw. der Narr dem Publikum den nihilistischen End- und Nullpunkt von Shakespeares Tragödie, an dem eigentlich fast alle Protagonisten sterben, gar nicht erst zumuten und greift munter in die Handlung ein: Cordelia überlebt, lässt sich scheiden, ehelicht den Narr und schenkt ihm Zwillinge; selbst der Konflikt zwischen Goneril und Regan gipfelt nicht in einem tödlichen Eifersuchtsdrama. Shakespeare als Autor wird dabei völlig enteignet, der Text gehört ihm, dem Autor-Subjekt nicht mehr und wird in seiner strukturellen Offenheit fast nach Belieben variiert und iteriert.
Körper-Stimmen
Die mimisch-körperliche Wandelbarkeit, mit der Bea von Malchus die einzelnen Charaktere des Stücks repräsentiert, ist sowohl an schauspielerischer Virtuosität als auch an ungezügelter Komik nicht zu überbieten. Nur durch geringe Veränderung ihrer Gesten, ihrer Körperhaltung, Gesichtszüge oder einer Nuance ihres raffiniert gestalteten Kostüms wechselt sie scheinbar mühelos und fliessend die Rolle.
Am stärksten bleibt allerdings die erstaunliche Mutabilität der Stimme in Erinnerung. Es gelingt von Malchus in schlicht fulminanter Weise, jeder der von ihr verkörperten Personen eine eigene Stimme mit eigenem Klang und eigener Sprechweise zu verleihen. Der Narr erzählt in breitem englischen Akzent, Lear, der alte unbeherrschte Tor klingt mal aufbrausend bis jähzornig, mal jämmerlich-verbittert; die bösartig-unnahbare Goneril spricht in dunklem, samtweichem Ton; Gloucester lispelt, sein Sohn Edgar stottert und nachdem er sich als geistesgestörter Bettler ausgibt, verlangt er mit jaulender Falsettstimme nach Dr. Shakespeare, der doch bitte ans Telefon gehen möge. Das ist ebenso witzig wie unterhaltsam und wird durch geschickt eingestreute Gesangseinlagen mit zusätzlichem Unterhaltungswert angereichert.
Damit trifft Bea von Malchus den ambiguen Wesenszug des Narren in seinem Kern und ist dabei nichts weniger als ebendieser Narr, den sie die Geschichte erzählen lässt: Sowohl ein unterhaltsamer Spassmacher, der in Rollen schlüpft und Personen imitiert als auch ein irrsinniges, wahnsinniges, zutiefst fragmentiertes Subjekt, das in fremden Zungen spricht. Die Stimme, welche die Identität einer Person festzuhalten scheint, entpuppt sich dabei als reines Phantasma einer unmittelbar gegebenen Präsenz und Verkörperung. Die illusionäre Einheit von Stimme und Träger löst sich in einer depersonalisierten Vielheit auf. Die Schauspielerin auf der Bühne konfiguriert Stimme und Körper zu ephemeren szenischen Gestalten, die sogleich wieder abtreten.
Die Art und Weise, in der das geschieht, ist – mit Verlaub – saukomisch und zutiefst beeindruckend. Oder wie Lear es formuliert: «Rettet eure ignoranten Ärsche, denn nun werdet ihr wahnsinniges Talent sehen!»