Versuch über die wahre Art zu kritisieren

Die Veranstaltung
Was: Wahlverwandtschaften: Voll daneben – Irrtümer der Musikkritik
Wo: Tonhalle Zürich
Wann: 01.04.2012
Bereiche: Literatur, Musik
Der Autor
Moritz Weber: Jahrgang 1976, studierte Klavier an den Musikhochschulen in Zürich und München sowie Kulturpublizistik an der ZHdK. Er lebt als freischaffender Konzertpianist, Kulturjournalist und Klavierpädagoge in Zürich.
Die Kritik
Lektorat: Lukas Meyer.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: Literaturhaus Zürich (siehe Unabhängigkeit).
Von Moritz Weber, 2.4.2012
Ein Zitat des Literaturnobelpreisträgers G.B. Shaw, demzufolge Kritiker blutrünstige Leute seien, deutete bereits in der Vorankündigung auf den Grundton der Veranstaltung hin. Quasi als Gesprächsleitlinie lieferte Norbert Miller dann gleich zu Beginn seine Definition von Kritik: «Kritik entsteht, wenn die Avantgarde gegen die allgemeine Meinung verstösst.» Auch Peter Hagmann stimmte in diesen Kanon ein, er äusserte sich bewundernd über den Mut der Kritiker im späten 19. Jahrhundert. Dieser Mut entpuppte sich in den nachfolgenden Beispielen aus Hugo Wolfs Feder jedoch weitgehend als gnadenlos vernichtende, polemische Aggression.
Harte Worte
Jeder Grundlage entbehrend beschimpfte Wolf in seinen Kritiken Brahms, Schubert, Schumann oder Mendelssohn in bissiger und manchmal sogar vulgärer Art und Weise. «Hohlheit», «Duckmäuserei» und «Impotenz» waren die Schlagworte seines Vokabulars. Das Publikum im Saal amüsierte sich köstlich ob dieser leidenschaftlichen Zerfleischungen, welche von Helmut Vogel äusserst plastisch rezitiert wurden. Derweil deckten Hagmann und Miller sachlich und mit Schalk die Intention des rohen Machtmissbrauchs auf, indem sie die geschichtlichen Hintergründe der Konkurrenz Brahms’ und Wolfs beleuchteten.
Auch sprachen sie im weiteren Verlauf wichtige Fragen aus, welche sich für einen Kritiker immer stellen müssen: Die Frage nach der Kompetenz des Kritisierenden, nach seinen Kriterien und seiner Subjektivität, die Frage nach der Verzerrung von Kritik durch seinen eigenen Narzissmus oder durch bestehende Vorurteile. Kurz: Die Eckpunkte des für alle Journalisten verbindlichen Pressekodexes.
κρίνειν
Auch im weiteren Verlauf wurde der durch den Programmablauf inszenierte, publikumswirksame Schlagabtausch beibehalten. Oberflächlich betrachtet hätte sich so der landläufige Eindruck erhärten können, dass Kritiker wirklich eine kindische, brutale und kläffende Spezies sind. Wer ganz genau hinhörte wurde jedoch enigmatisch auf die Etymologie des Wortes «Kritik» hingewiesen, welche sich auf das griechische Verb «krinein» für scheiden, sichten oder trennen bezieht. Hagmann erwähnte zaghaft die Rolle des Kritikers als «Lichtbringer» und fragte, von welcher Art von Kritik ein Leser profitieren könnte. Diese zentrale Aufgabe der Kritik – als Stimulans eines erwachsenen Diskurses und Rezeptionsbeistand – hätte deutlicher und selbstbewusster gewichtet werden können.
Arrièregarde
Leider präsentierten sich Miller und Hagmann statt als Avantgardisten nur zurückblickend (das aktuellste Kritik-Beispiel war von 1886) und setzten die gewonnenen Erkenntnisse kaum in Beziehung zur heutigen Situation der Kulturkritik. Gerade im Zuge der aktuellen Kulturinfarkt-Debatte und der Feuilletonkrise wäre dies sicher fruchtbar gewesen. Hagmann konstatierte zwar eine Verflachung der heutigen Kulturkritik, brachte aber keine treffenden Beispiele, Analysen oder Lösungsvorschläge.
An die Musik
Sechs Musiker brachten die Zankäpfel der vorgestellten Kritiken zum Klingen. Zuerst zwei Sätze der F-Dur Cellosonate von Brahms, in welchen es dem Cellisten Mattia Zappa nach einem etwas unkoordinierten und klanglich oft unausbalancierten ersten Satz gelang, sich im Adagio affettuoso frei zu spielen und die innigen Kantilenen auszukosten.
Der musikalische Höhepunkt der Matinée war später die Wiedergabe des ersten und dritten Satzes von Bruckners Streichquintett. Die fünf Mitglieder des Tonhalle-Orchesters übertrugen mit Herzblut die Sinnlichkeit des Stücks aufs Publikum und machten mit Intelligenz die komplexe Motivarbeit des Stücks hörbar. Sie überzeugten mit einem sowohl durchsichtigen als auch satten und kompakten Gesamtklang. Mit ihrer anrührenden Interpretation des ausgedehnten Adagios zelebrierten sie die Musik als entwaffnende Protagonistin des Diskurses.