Unternehmer deiner selbst

Die Veranstaltung
Was: Entscheiden. Eine Ausstellung über das Leben im Supermarkt der Möglichkeiten
Wo: Stapferhaus Lenzburg
Wann: 15.09.2012 bis 30.06.2013
Bereich: Gesellschaft
Der Autor
Tilman Hoffer: Jahrgang 1988. Studierte Soziologie, Philosophie und Literarurwissenschaft an der Universität Zürich, gegenwärtig Geschichte und Philosophie des Wissens an der ETH. Ist literarisch tätig.
Die Kritik
Zu dieser Veranstaltung wurde eine weitere Kritik verfasst.
Lektorat: Elena Ibello.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: Stapferhaus Lenzburg (siehe Unabhängigkeit).
Von Tilman Hoffer, 23.11.2012
Die Ausstellung «Entscheiden» beginnt mit Adam und Eva. Ein Animationsfilm fasst die Geschichte der Menschheit in gut fünf Minuten zusammen. Religion, französische Revolution, Industrialisierung, Klassenkampf, Frauenemanzipation, 1968, Gegenwart – alles stark gerafft, aber man erkennt, worum es geht. Der Off-Kommentar erzählt dazu die klassische Geschichte der Aufklärung: Das Individuum wurde freier, bekam mehr Verantwortung für sein eigenes Leben, aber das Leben wurde auch ungewisser und losgelöster von traditionellen Bindungen. «Du hast die Wahl», verkündet die Stimme schliesslich, und dann noch einmal, etwas beschwörender: «Du hast die Wahl!»
Das klingt alles andere als ermutigend, in Wirklichkeit sogar ein wenig bedrohlich. Gott ist tot, aber vom höhnischen Nietzscheanischen Gelächter darüber haben wir uns weit entfernt, das ist das Mindeste, was man sagen kann. Man betritt nun – welthistorisch als hybrides Subjekt und physisch als Besucher des Stapferhauses Lenzburg – den «Supermarkt der Möglichkeiten».
«Have it your way»
Paradigmatisch für die Explosion der Wahlmöglichkeiten ist natürlich die Liebe und die Paarung. In kaum einem anderen Bereich erkennt man so deutlich, wie sehr sich die Freiheitsgrade unserer Lebensform vermehrt haben. In kaum einem anderen Bereich erkennt man ebenso deutlich, dass Freiheitsgrade nicht einfach Güter sind, die man mehr oder weniger kompetent benutzen kann – oder auch nicht (wie Hamburger oder Gummidildos); es sind implizite Aufforderungen, Spannungsgeneratoren, die eine permanente Unruhe erzeugen.
Anhand von Grafiken und mit dem leichten Zynismus, der statistischen Generalisierungen immer innezuwohnen scheint, werden die wichtigen Entscheidungen in chronologischer Reihenfolge präsentiert (Das erste Mal – Partnerwahl – Heirat – Familiengründung – Scheidung) – einschliesslich wichtiger Kennzahlen darüber, wie die Schweizer sich hier verhalten und von welchen Faktoren und Vorstellungen sie dabei beeinflusst werden. Die Ergebnisse lassen Interpretationsspielraum, deuten aber bereits an, dass möglicherweise nicht alles zum Besten steht. Man möchte sehr wohl die optimale Entscheidung treffen (so glauben etwa 84 Prozent der Jugendlichen an die «Liebe des Lebens»); man tut sich aber zunehmend schwer damit (so verdoppelte sich etwa die Scheidungsrate in den letzten 30 Jahren auf gegenwärtig 54 Prozent).
Ganz allgemein zeigt sich hier ein Dilemma. Eine Statistik (über das Heiratsalter, über wünschenswerte Eigenschaften des Partners…) etabliert implizit stets eine Norm. Doch der Norm zu entsprechen, ist plötzlich nichts mehr, was honoriert wird. Im Gegenteil, es ist Ausdruck persönlichen Versagens, denn unser Ideal ist die Autonomie: Führe ein selbstbestimmtes, erfolgreiches und aufregendes Leben; sei du selbst!
Wer daran zweifelt, wird durch den Audiohintergrund der Ausstellung an die Kernbotschaften unserer Zeit erinnert, die, ganz wie im realen Supermarkt, mit esoterischer Musik und Vogelgezwitscher unterlegt sind: «Unendlich geniessen», «Have it your way», «Nimm dir was du brauchst», «Nichts ist unmöglich». Die Aussagen sind straightforward, aber man beachte: Sie werden nicht gebrüllt, sondern mit unverkennbar erotischem Unterton geflüstert…
Epoche des gequälten Lächelns
Die Entscheidung ist die Urszene der Autonomie, beide sind nicht getrennt voneinander denkbar. Doch jede wirkliche Entscheidung ist eine Festlegung, mitunter sogar eine endgültige, also ein Verzicht auf weitere Entscheidungen. Die Freiheitsgrade können folglich nur maximal sein, wenn man sich möglichst nicht festlegt – daher die latente Angst, sich zu etwas zu verpflichten; daher auch die latente Beliebigkeit und Halbherzigkeit, die das Treiben unserer Zeitgenossen zu kennzeichnen scheint. Kein Wunder, dass man die starke, entscheidungsfreudige Persönlichkeit immer und immer wieder beschwören muss.
Dies sind abstrakte Entwicklungen, und eine gesellschaftliche Entwicklung lässt sich nicht einfach an eine Ausstellungswand hängen oder in ein Terrarium sperren. Wohl aber lassen sich ihre teilweise durchaus merkwürdigen Folgen darstellen. In einem anderen Segment der Ausstellung sieht man Videointerviews, in denen Teenager Auskunft über ihre Zukunfts- und vor allem Berufsambitionen geben. Vielleicht sind die Folgen auch gar nicht so merkwürdig; aber es ist doch auffällig, mit welchem verbissenen Ernst sie bei der Sache sind. Ärztin, Kaufmann, Heizungsinstallateur, Lehrerin – das sind alles ehrenwerte Berufe, aber sie klingen nicht gerade wie die grössenwahnsinnigen Träume einer Generation von Egomanen, sondern eher ein bisschen kleinlaut. Natürlich haben oder hatten sie auch Traumberufe (Fussballer, Filmstar usw.), doch äussern sie sich dazu eher verlegen. Man muss schliesslich realistisch bleiben, natürlich. Seine Stärken und Schwächen im Blick behalten. Und sich anstrengen, immer. Dann kann man es schon schaffen. Diese Einschätzungen mögen stimmen oder auch nicht, aber unter den Teenagern herrscht hier grosse Einigkeit hinter den ernsten Gesichtern (bemerkenswert auch die Begründung einer 16jährigen, warum sie froh sei, vorläufig noch zur Schule zu gehen – so könne sie «das Leben noch ein wenig geniessen»). Und nicht der leiseste Hauch von Ironie oder auch nur irgendeine Form von distanzierender Coolness. Stattdessen Enthusiasmus, der jedoch ein wenig aufgesetzt wirkt. Vielleicht werden Historiker unsere Epoche einmal die des gequälten Lächelns nennen. Die permanente Berieselung mit den Verheissungen der Supermaktes («Nichts ist unmöglich»…) wirken plötzlich äusserst realitätsfremd. Was allerdings nicht dazu führt, dass man für die umso realeren Jugendlichen grosse Sympathie empfinden würde.
Rundgang durch einen Diskurs
Man betrachtet sie eher als Symptome. Denn der wahre Gegenstand der Ausstellung ist eine Legitimationserzählung (oder in älteren Begriffen: einer Ideologie oder eines Über-Ich). Sie ist ein Rundgang durch einen Diskurs. Gegenüber dem Schweizer Radio SRF kritisierte der Autor Guy Krneta, dass sie bestimmte philosophische Fragen einfach ausklammere (die Frage nach dem freien Willen, nach der Verantwortung…). Das ist zwar richtig, doch diese Kritik verkennt völlig, worum es eigentlich geht. Aus Sicht der Hirnforschung und bestimmter Philosophien ist der freie Wille vielleicht keine Tatsache mehr. Der Kult der freien Entscheidung aber ist unbestreitbar eine soziale Tatsache. Sie ist für die Logik des Supermarkts unverzichtbar.
Im Gegenteil muss man eher kritisieren, dass die Ausstellung diesen Fokus streckenweise verliert und in einen launigen Sesamstrassen-Stil kippt, der der Sache im Grunde völlig unangemessen ist. In kurzen Interviewfilmen kommen sogenannte Entscheidungsträger zu Wort: Regierungsrätin Susanne Hochuli erzählt etwas über Teamarbeit und darüber, wie man «die Gesellschaft weiterbringen» kann; Fussballschiedsrichter Urs Meier erzählt etwas über sein Bauchgefühl; Roger Köppel erzählt das Gleiche wie immer. Ebenso beliebig wirken auch die verschiedenen Stationen, an denen sich der Besucher durch Fragebatterien klickt, sodass er am Ende erfahren kann, welcher Entscheidungstyp er ist (der Autor erfuhr übrigens, sowohl in der Liebe als auch in der Karriere «offen», «riskant» und «egoistisch» zu sein, die Auswertung bezeichnete ihn also im Prinzip als Arschloch – wenngleich noch mit ein paar romantischen Residuen: «Amors Pfeil lässt sich nicht steuern, davon sind Sie überzeugt!»). Ein anderes Modul versorgt ihn mit «Entscheidungstipps», einer Mischung aus instant coaching und Küchenpsychologie. Tja, was soll das? Hier scheint den Ausstellungsmachern die Entzückung über ihr mediales Repertoire ein wenig zu Kopf gestiegen zu sein.
Kühlkammer und Krankenstation
Leichte stilistische Verirrungen oder Angst vor der Eindeutigkeit? Schwer zu sagen. Denn die Ausstellung fährt ansonsten durchaus schwere Geschütze auf. In einem LKW, der an das Gebäude angeschlossen ist, wird das präsentiert, was erst seit kurzem den Entscheidungsspielraum bevölkert: Gencode-Analysen, plastische Chirurgie, und die ganze Palette des brain food: Beruhigungsmittel, Aufputschmittel, Antidepressiva. Und schliesslich das Angebot der Organisationen Exit oder Dignitas: der hundertprozentig selbstbestimmte, professionell begleitete Freitod. Das alles erwartet den Besucher in der zweifelhaften Atmosphäre einer Kühlkammer: Stahlplatten, weisse Lagerkisten, Chemikalien und (wahrheitsgetreue) Preisschilder. Die Freiheit ist kalt und zerstörerisch. Oder sagen wir zumindest: Sie ist bei weitem nicht nur ein grosser Spass.
Doch der Körper, das Gehirn und der Tod sind die Bereiche, die nun unabwendbar der Logik der Autonomie unterworfen werden.
Nur wenige Schritte weiter kann man auf Krankenliegen die Berichte von Ärzten und Betroffenen hören, die Erfahrungen mit einem recht neuen Typus psychischer Störungen gemacht haben: Überforderung, Blockade, «Entscheidungsparalyse», Depression. Man behandelt sie gewöhnlich mit Medikamenten und Klinikaufenthalten. Diese Symptome der Unzulänglichkeit sind die Negativbegriffe der gegenwärtigen Idee von Autonomie: Wer nicht mehr entscheiden kann, gehört ihm Grunde nicht mehr der Zivilisation an. Wenn du nicht mehr entscheidest, bist du nicht mehr du selbst; wenn du nicht mehr entscheidest, bist du krank! Nicht mehr nur im Beruf, sondern mit seiner ganzen Persönlichkeit ein Unternehmer zu sein, bedeutet folgerichtig, dass sich auch der Begriff der Konkursmasse erweitert.
Wo der Supermarkt endet
Spätestens hier merkt man, dass die Metapher des Supermarktes zwar catchy, doch in letzter Konsequenz unzutreffend ist. Vergegenwärtigen wir uns, was für den Supermarkt charakteristisch ist. Man hat anderswo Geld verdient, jetzt erwirbt man einen Gegenwert dafür; die zu erwartenden Glücksgefühle sind in Produktform nach Anwendungsbereichen, Qualität und Preis geordnet; Herkunft und Zusammensetzung sind gut dokumentiert. Das alles meist in einer Umgebung vorbildlicher Hygiene und maximaler Sicherheit. Auch der Konkurrenzkampf hört auf, alles ist erschwinglich; jeder, der nicht nackt oder betrunken ist, ist willkommen. Dennoch handelt es sich beim Supermarkt stillschweigend um das Refugium der breiten arbeitenden Mittelschicht, weder die Reichsten noch die Ärmsten betreten ihn. Der Supermarkt, so sehr man ihn auch als Sinnbild des Kapitalismus ansehen mag, ist im Kern eine sozialdemokratische Institution. Zwar lässt sich der Begleitbroschüre des Stapferhauses entnehmen, mit welchen Mitteln man zum Konsum manipuliert werden soll («Labormäuse am Kassenband», Seite 23), aber im Endeffekt handelt es sich um eine fast liebenswürdige Manipulation, die sich bemüht, den Besuch so abwechslungsreich und angenehm wie möglich zu gestalten. Wo ist das Problem? Natürlich wird hier niemand glücklich, aber es steht fest, dass man für sein Geld auch etwas bekommt; mit anderen Worten, man kann nicht wirklich verlieren – weil man um das, was man haben will, nicht erst spielen muss.
Diese Gewissheit suchen wir ausserhalb des Supermarktes vergeblich. Und die Ausstellung trägt dem auf eindrucksvolle Weise Rechnung. Das Dachgeschoss des Stapferhauses ist dunkel, man braucht einen Moment, bis man sich in die drei engen Gänge einfindet, die es durchziehen. An den Innenwänden der Gänge werden hinter Glas, wie in den Vitrinen eines Mausoleums, Dokumente gezeigt, anhand derer sich drei Geschichten rekonstruieren lassen: die eines Motorradunfalls, die einer Krebserkrankung, die eines gestorbenen Kleinkinds. Die Biografien, die durch diese Schicksalsschläge geprägt wurden, illustrieren jedoch nicht nur, dass die totale Entscheidungshoheit über das eigene Leben eine Illusion ist. Sie erinnern auch daran, dass das eigene Leben eventuell ein Spiel sein mag, aber ein Spiel mit hohem Einsatz. Der Supermarkt endet nicht erst dort, wo unüberschaubare Kräfte in das Leben eingreifen; er endet bereits dort, wo wir nicht kaufen, sondern kämpfen müssen. Der Kult der Entscheidung verspricht freilich, dass alles gut wird. Die Ausstellung «Entscheiden» kratzt durchaus am Lack dieses Kults, doch letztlich schreckt sie davor zurück, ihre Ansätze zu Ende zu denken: nämlich die neue Qualität der Verwirrung und des Leidens zu zeigen, die die Kehrseite des Versprechens der Autonomie ist. Fraglos: Eine durchdachte und aussergewöhnliche, eine gute, sogar sehr gute Ausstellung. Aber leider nicht ganz die richtige.