Hörgenuss und Augenschmaus

Die Veranstaltung
Was: Tschechische Nacht
Wo: Literaturhaus Zürich
Wann: 08.03.2012
Bereich: Literatur
Der Autor
Philipp Ramer: Jahrgang 1987, studiert Germanistik und Kunstgeschichte in Zürich. Freie Mitarbeit für die Theaterredaktion der NZZ.
Die Kritik
Lektorat: Lukas Meyer.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: Literaturhaus Zürich (siehe Unabhängigkeit).
Von Philipp Ramer, 14.3.2012
«Ich brauche diese Stadt nicht», urteilte zu Beginn des 20. Jahrhunderts einer der bekanntesten tschechischen Literaten seiner Generation, Max Brod, über Zürich. Auf seiner sommerlichen Stippvisite mit Franz Kafka 1911 galt sein Hauptinteresse dem Baden im Zürichsee; für kulturelle Veranstaltungen, etwa ein Konzert in der Tonhalle, hatte er nur spöttische Worte übrig: «Unmusikalische Städte protzen immer mit ihren Veranstaltungen für Musik.»
«Ich mag diese Stadt!», heisst es anders rund 100 Jahre später bei Jaroslav Rudiš, einem der profiliertesten tschechischen Autoren der aktuellen mittleren oder jüngeren Generation. Mit ihren Strassenbahnen erinnere ihn Zürich an die Tramstadt Prag, lässt er das Publikum im vollbesetzten Saal des Literaturhauses am Donnerstagabend wissen – nur dass die Bahnen hierzulande weniger halsbrecherisch schnell fahren.
Eine neue Generation
Wo Brod dem Badeplausch frönte, ist Rudiš auf kultureller Mission zu Gast: Zusammen mit der Schriftstellerin Petra Hulová und der Alternative-Rockband «Priessnitz» ist er angereist, um in der Limmatstadt eine «Tschechische Nacht» zu bestreiten. Im Rahmen des Projekts «LITERAToUR.CZ» hat der Verband der Literaturhäuser (literaturhaus.net) junge Autoren auf eine Lesereise quer durch Deutschland, Österreich und die Schweiz geschickt; am Ende treffen sie sich alle auf der Leipziger Buchmesse. Ziel der Veranstaltungen ist, die tschechische Gegenwartsliteratur jenseits ihrer bekanntesten Exponenten wie Václav Havel oder Jiři Gruša im deutschsprachigen Raum bekannt zu machen.
In Zürich werden indes nicht nur Einblicke ins literarische, sondern auch ins musikalische, ja – im weiteren Sinne – ins filmische Schaffen Tschechiens gewährt. Im ersten Teil des Abends aber wird ausschliesslich gelesen und gesprochen. Petra Hulová trägt einen Auszug aus ihrer Novelle «Umělohmotný třípokoj» («Prager Plastik») auf tschechisch vor, anschliessend rezitiert die Schauspielerin Katharina von Bock einen längeren Ausschnitt aus der deutschen Übersetzung. Von Bocks schneidige Stimme passt gut zu dieser inhaltlich kruden, stilistisch artifiziell-kunstvollen Erzählung, einer Art ironischen Gesellschaftskommentar aus der Sicht einer Prostituierten. Die Geschichte sei von Elfriede Jelinek inspiriert, erklärt Hulová dem Moderator Georg Escher (auf tschechisch, eine Dolmetscherin übersetzt fürs Publikum), sie habe sie während eines Russlandaufenthalts wie im Rausch innert einer Woche niedergeschrieben.
Derweil Hulová sich bemüht, ernsthaft über ihr literarisches Schaffen und ihr wachsendes Interesse an politisch motivierten Texten Auskunft zu geben, gibt Rudiš zunächst einmal den Scherzkeks: Seinen Roman «Die Stille in Prag» stellt er unter dem Gelächter des Publikums mittels dreier zufällig gewählter Sätze aus Anfang, Mitte und Ende des Buchs vor, gibt Anekdoten zum besten und erzählt, mit welchen Autorengrössen er mitunter völlig zu Unrecht verglichen werde. Doch auch er wird ernst, wenn es um den Generationenwechsel in der tschechischen Literatur geht, den er mit dem Ableben von Václav Havel und Josef Škvorecký für besiegelt hält, oder wenn er auf das lange tabuisierte Thema «Sudetenland» zu sprechen kommt, das in seiner Graphic Novel «Alois Nebel» eine wichtige Rolle spielt.
Musikalisch-filmischer Ausklang
Die Comicfigur Alois Nebel, Fahrdienstleiter auf einem kleinen Provinzbahnhof, ein Einzelgänger und Outsider, ist in Tschechien binnen Kurzem zur Kultfigur avanciert. Rudiš’ ganz in schwarzweiss gehaltener Cartoonroman wurde inzwischen verfilmt und ist kürzlich mit zwei «Gläsernen Löwen», dem höchsten tschechischen Filmpreis, geehrt worden. Der dickliche, schnauztragende Antiheld bildet den Link zum zweiten Teil des Abends, denn Jaromír 99 (Jaromír Svejdík), der den Comic illustriert hat, ist zugleich Sänger der Band «Priessnitz».
Vom Gitarristen der Gruppe begleitet, liest Rudiš zunächst noch eine Kurzgeschichte vor, dann verabschiedet er sich von der Bühne, und Priessnitz übernimmt. Während die vier Tschechen, die sich als eingespielte Band präsentieren, ihre entspannten Folkrock-Songs zum besten geben, werden auf einer grossen Leinwand hinter ihnen Ausschnitte und geloopte Szenen aus dem Alois Nebel-Film projiziert. Im Zusammenspiel mit der Musik entfalten die düsteren, schaurig-schönen Bilder eine beinahe hypnotische Wirkung. Da stört es wenig, dass die deutsche Übertitelung der tschechischen Lyrics nicht ganz synchron zu Jaromirs angenehmem Gesang verläuft.
Selbst wenn die Zürcher so unmusikalisch sein sollten, wie Brod einst behauptete – ein gutes Konzert wissen sie zu schätzen. Mit viel warmem Applaus bewegen sie die Gruppe, zwei Zugaben zu spielen. Und beim anschliessenden Apéro verstehen sie es sogar, die Weingläser schön zum Klingen zu bringen.