Porträts deutscher Alkoholiker

Die Veranstaltung
Was: Porträts deutscher Alkoholiker
Wo: Filmpodium Zürich
Wann: 15.03.2012
Bereich: Film+Fotografie
Der Autor
Christian Felix: Jahrgang 1960, arbeitet seit 2004 selbstständig als Drehbuchautor. Daneben schreibt er Reden, Buchkritiken, Zeitungs-/Magazinartikel, sowie Editorials (www.christianfelix.ch)
Die Kritik
Lektorat: Fabienne Schmuki.
Von Christian Felix, 17.3.2012
Dokumentarfilm von Carolin Schmitz im Filmpodium Zürich
Ein Standbild: Ein leeres Restaurant, zwei alberne Wasserspiele. Ein Einstieg, der irritiert. Es folgen ähnliche Bilder. Vor stehender Kamera oder in langsamer Fahrt. Eine Spur behagliche Einfamilienhäuser aus der deutschen Nachkriegszeit zieht vor unseren Augen vorbei. Die Off-Stimme einer Alkoholikerin setzt ein. Sie faselt nicht lange rum, beginnt gleich damit, wie schwer sie sich tat, während ihren Schwangerschaften nicht zu trinken.
Komponierte Bilder
Nun legt der Film seine klare, geordnete Konstruktion offen. Über sorgfältig komponierte Bilder laufen im Off die Erzählungen von sechs heimlichen Alkoholikern, von drei Frauen und drei Männern. Unkommentiert. Daraus ergeben sich quasi zwei Filme. Es sind erstens die Schicksale der Süchtigen, wobei hier das Wort «Schicksal» mit Bedacht gewählt ist. Der Film begründet nichts, bewertet nichts. «Is’ so», lautet seine Aussage.
Eine zweite, eigene Geschichte erzählen die Bilder. Sie ist anspruchsvoller zu lesen als der gesprochene Text. Der Bilderreigen führt uns durch Nordrhein-Westfalen. Er zeigt Verkehrsmittel, Autobahnen, ICEs, Flugzeuge und Baustellen, Freizeitanlagen, Fussgängerzonen. Es sind verstörend schöne Bilder von fast immer menschenleeren Szenerien. Richtig gespenstisch wirken Bürolandschaften ohne Angestellte. Geradezu einen Narren gefressen hat die Regisseurin an Robotern, selbsttätigen Automaten. Zweimal erscheint eine Orangensaftpresse, ein bewegtes Gemälde in grün-orange. Vor unseren Augen braust, surrt und rauscht ebenso entmenschlicht wie störungsfrei das Bruttosozialprodukt.
Sachliches Sprechen
Die Off-Stimmen der Alkoholiker verzerren diese Bildkompositionen und laden sie mit Panik auf. Allein dadurch verzahnen sich beide Geschichten ineinander. Zudem ordnet die Regisseurin jedem Porträt eine eigene Bildauswahl zu, sei es die Berufswelt der Sprecher, sei es die gute Stube der Sprecherinnen. Die Porträtierten erzählen kontrolliert, mit ruhiger Stimme. Gefühlsmässige Aufwallungen unterbleiben. Tränen gibt es keine. Ein Mann legt geradezu poetisches Talent an den Tag. Wir hören Einzelheiten, die uns das Leben der heimlichen Trinker so nahe bringen, dass uns der nächste Schluck Alkohol bitter schmecken wird. Der Alkohol selbst bleibt im Film ebenso unsichtbar wie die Alkoholsüchtigen. An seine Stelle tritt Wasser, immer wieder Wasser, als Fluss, Springbrunnen, Schwimmbecken.
Die heimlichen Alkoholiker packen ihr Leben: Sie kriegen Kinder, steigen die Karriereleiter hoch. Erstaunlich lange geht das gut. Es scheint sogar, als wäre der Alkohol das Schmiermittel, das die Leistungsgesellschaft überhaupt erst in Schwung hält. Und doch vernichtet er am Ende Beziehungen, Berufslaufbahnen und damit die menschliche Existenz.
Ein Kunstwerk
Der Dokumentarfilm von Carolin Schmitz weist in seiner Aussage weit über das Thema Alkoholismus hinaus. Die Wirtschaft produziert wie am Schnürchen, aber nur dank des versteckten Gifts, das sie am Ende völlig entseelt und aushöhlt. Die Produktion wird zum Selbstzweck. Auch formal sprengt Carolin Schmitz Grenzen. Sich macht mit «Porträts deutscher Alkoholiker» den Dokumentarfilm zum Kunstwerk. Zu einem Kunstwerk, das begeistert.