Poesie der gescheiterten Bewegung

kulturkritik.ch - Bildmaterial zur Verfügung gestellt

Die Veranstaltung

Was: Peeping Tom: «For Rent»
Wo: Theaterhaus Gessnerallee Zürich // im Stall 6
Wann: 21.06.2012
Bereich: Tanz

Der Autor

Tilman Hoffer: Jahrgang 1988. Studierte Soziologie, Philosophie und Literarurwissenschaft an der Universität Zürich, gegenwärtig Geschichte und Philosophie des Wissens an der ETH. Ist literarisch tätig.

Die Kritik

Lektorat: Lukas Meyer.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: Theaterhaus Gessnerallee (siehe Unabhängigkeit).

Von Tilman Hoffer, 24.6.2012

Auf den ersten Blick wirkt alles ganz harmlos. Man hat es anscheinend mit einer Hotellobby oder einem grossbürgerlichen Salon zu tun. Die wallenden roten Vorhänge und der schachbrettgemusterte Boden vermitteln den Eindruck luxuriöser Ereignislosigkeit. Eine Dame des Hauses (ganz Jahrhundertwende) fragt ihren Diener, ob sie schön sei. So viel Theater ist heutzutage selten im Theater. Man merkt jedoch schnell, dass etwas nicht stimmt: Der Diener bewegt sich in verzerrten, fast unmenschlich anmutenden Tanzfiguren, bedrohliche Musik- und Beleuchtungseffekte setzen bald ein, und eine Gruppe von Menschen krabbelt wie Ungeziefer hinter den Möbeln hervor.

«For Rent» ist jedoch keine Spukgeschichte – jedenfalls nicht nur. Die Stärke des Ausdrucks und die artistische Präzision, in die sich die Darsteller mehr und mehr hineinsteigern, hat beinahe etwas Metaphysisches. Sie führen mehr oder weniger sinnvolle Bewegungen aus, doch es ist ein permanentes Ausbalancieren gegen andere, tiefere Kräfte. Die Dämonen fahren ihnen dazwischen. Die Schritte (Gesten, Andeutungen…) erhalten so ihre eigene Poesie: Sie sprechen von etwas, das nicht ganz ans Ziel gelangen kann. Wenn der Tanz zur Symbolisierung des Begehrens, der Verführung und schliesslich der Paarung eingesetzt wird (seit jeher der Hauptzweck des Tanzes), wird dies besonders offensichtlich. Das alles ist auf eine intuitiv zugängliche Weise von einer bitteren, aber beinahe erhabenen Tragik. Man vergisst jedoch, auf die technische Virtuosität zu achten; die choreographischen Sequenzen sind so kohärent, dass man selbst groteske akrobatische Verrenkungen mit ernsthafter Verletzungsgefahr nach und nach als vollkommen natürlich empfindet. Man möchte schlichtweg wissen, wie es weitergeht.

Schwebend und unausweichlich

Denn es gibt, zumindest in Ansätzen, durchaus eine Handlung, oder vielmehr deren zwei. Die eine dreht sich um die Dame des Hauses, die eine Obsession für ihren Diener entwickelt und nach und nach (das ist keine sehr gewagte Interpretation) in einen fiebrig-paranoiden Wahnsinn abgleitet. Verflochten ist dieser Handlungsstrang mit der Geschichte einer Opernsängerin, die ihre besten Tage jedoch hinter sich hat, verbittert ist und sich von ihrem Mann und ihrem Sohn immer mehr entfernt. «Eine mutige, doch alternde Subrette» – diese Worte stammen von Georg Kreisler; der Topos ist nicht ganz unbekannt. Trotzdem gelingt es dem Ensemble, anhand dieser einfachen Konstellationen tiefe menschliche Abgründe zum Vorschein zu bringen; die Wahrheit hinter diesen vertrauten Figuren neu erscheinen zu lassen, indem man sie in eine andere Sprache überführt. Einsamkeit, Angst, Zurückweisung, die Wahrheit liegt irgendwo hier, man spürt es (wir sind alle ein bisschen Diva; wir sind alle in unserem Streben ein bisschen bemitleidenswert).

Der Stil von Peeping Tom ist jedoch niemals larmoyant, er ist mitunter sogar auf eine burleske Art komisch. Hin und wieder wird gelacht (zu Recht), aber das Amusement über die Raffinesse der Aufführung weicht schnell einer konzentrierten Spannung (ebenfalls zu Recht). Wenn der 27jährige Jos Baker (die Namen der Darsteller und ihrer Rollen sind identisch) sich plötzlich selbst als alter Mann gegenübersteht, dann ist das äusserst raffiniert, sowohl was die Vielfalt der möglichen Interpretationen als auch was die Perfektion der Inszenierung betrifft – vor allem aber ist es wirklich gespenstisch.

Traum und Wirklichkeit

So gibt es zwar durchaus Rollen und eine Handlung, doch sie liefert eher die Themen für eine Verkettung atmosphärischer Bilder. Diese ist keineswegs frei von Strukturen, doch es sind Strukturen der Gedankenschleifen und des Traums. Sind sie deshalb weniger wirklich? Nein, keineswegs; Träume sind ein Teil der Wirklichkeit. Ein Diener, der plötzlich aus seinem eigenen Porträt steigt und sich danach verdoppelt, ein junger Mann, der plötzlich zum Greis wird, derselbe Diener, der in einem Sessel verschwindet, tanzende Möbel…diese Bilder sind surreal, wenn nicht absurd. Opiumfantasien wird eine ähnliche Optik nachgesagt.

Doch die Absurdität ist nicht das Beklemmende. Das Beklemmende ist die ungebrochene Stringenz, man möchte sagen: der Eindruck von interner Logik und folgerichtiger Notwendigkeit. Das Leiden der Figuren ist nachvollziehbar, aber unvermeidlich. Nichts wirkt pathetisch. Man ist vollkommen bereit, die Rahmenbedingungen hinzunehmen, mit anderen Worten: vor dieser Realität zu kapitulieren. Man wird daran erinnert, dass das Tanztheater (viel mehr noch als das Texttheater) auf eine Art kommunizieren kann, bei der abwegig wäre, zu erklären oder zu überzeugen; man kommt folglich auch nicht auf die Idee, etwas daran zu hinterfragen (kann man sich etwa vorstellen, einen Albtraum zu hinterfragen, während man ihn träumt?).

Die Zeit als Akteur

Alles ist in der Schwebe, in allen Dingen schläft ihr Ruin – aber sie sind dennoch verhängnisvoll. Alles könnte auch anders sein; aber was geschieht, setzt einen Automatismus von Ereignissen in Gang, der nicht mehr aufzuhalten ist. Allerdings ist auch die Zeit nicht nur ein indifferenter, sondern ein listiger Feind; sie erschüttert die Darsteller, aber sie ändert auch selbst durch den Lauf der Dinge ihre Form. Sie läuft mal gerafft und mal gedehnt (die Darsteller sind hier auf brillante Weise grotesk, verfallen aber nie in slapstick), sie läuft aber auch nicht linear, sondern in Sprüngen und Schleifen.

Peeping Tom gelingt das Meisterstück, die artifizielle Zeit des Theaters (alles dauert ja «tatsächlich» nur knapp anderthalb Stunden) in ihr Spiel zu integrieren, indem sie nicht versuchen, die Illusion einer länger dauernden Handlung zu erzeugen, sondern sie zu einer subjektiven Zeit machen. Man integriert diesen Filter, der zwischen Zuschauer und Geschehen geschoben wird, bald automatisch in die Wahrnehmung; gleichzeitig wird man an mehreren Stellen daran erinnert, dass man sich mittendrin befindet, gleichsam im Albtraum eines anderen (das Publikum ist auf einmal das bestellte Publikum der alternden Sängerin; die Dame des Hauses erzählt einer Reisegruppe die Geschichte des Theaters Gessnerallee; ein Mann im Publikum wird aufgefordert, den Saal zu verlassen – «you leave, or I’ll leave»; er tut es).

Stilles Einverständnis

Dieses stille Einverständnis zwischen Bühne und Publikum kann auch deshalb so ungebrochen aufrecht erhalten werden, weil durchgängig eine unverwechselbare ästhetische Handschrift zu erkennen ist. Das Stück lebt durchaus von einem eklektischen Ideenreichtum – dieser wird jedoch zu einer stimmigen Gesamtästhetik diszipliniert. Wie bei anderen, grösseren Werke hat man den Eindruck von Geschlossenheit. Tatsächlich bekommt man im Nachhinein das merkwürdige Bedürfnis, Kafka zu lesen. Oder sogar Freud.

Die selbstgesteckten Grenzen des Stils werden nie überschritten. Selten, und das ist hundertprozentig positiv gemeint, ist der Wahnsinn so stilsicher wie hier; es ist ganz einfach schön, wenn eine Sprache der universellen Bedrohungen in einem Dekor daherkommt, das an das Cabaret um 1900 erinnert. Warum? Das ist eine dumme Frage. Warum nicht. Es funktioniert, überzeugen Sie sich selbst. Und wenn Sie keine Karten mehr bekommen: Am 29. Juni spielen Peeping Tom in Marseille. Fahren Sie hin. Ernsthaft.

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