Observatio VI

Von Perikles Monioudis, 25.4.2012

Er gelangte ohne Umweg zum Haus in der Hafnerstrasse 41. Nicht, dass er es nicht gekannt hätte. Aber das baufällig wirkende Eckhaus – auf dessen von der Sonne gebleichten Fassade der Schriftzug jenes Handwerksbetrieb zu lesen steht, der hier längst nicht mehr im Geschäft ist – ist so unscheinbar, dass er versucht war, bis zur nächsten Strasse vorzugehen; allein deswegen, damit das Haus einen Moment lang zu seinem Recht kommt. Worin bestünde dieses Recht? Darin, nicht erkannt, nicht weiter behelligt, schon gar nicht in den Grundfesten erschüttert zu werden? Schlicht darin, seinen Verfall billigend in Kauf nehmen zu dürfen und dabei kryptisch mit Institut für Theorie neu bezeichnet zu werden?

Er betrat das Haus und begab sich im Seitenflügel ganz nach oben, in den nur gerade zweckdienlich sanierten Dachstock. Dort stellten Studierende im ZHdK-Master for Transdisciplinarity gerade ihre Quartalsprojekte zum Thema Modelle/Models vor. Eine Ökonomin liess in ihrem Videofilm Personen zu Wort kommen, die die Veränderungen in Zürichs Westen und deren Auswirkungen theoretisch und an Beispielen erklärten. Darin äusserte sich etwa eine Architektin vor einem Modell der Escher-Wyss-Gegend, während jemand auf seiner Terrasse den sozialen Strukturwandel beschrieb, im Hintergrund der Prime Tower. Die Dozenten konnten der Idee etwas abgewinnen, fanden aber, die Arbeit könnte unter Berücksichtigung einiger weiterer genuin filmischer Kriterien noch besser werden. Das war kein negatives Urteil. In einem Quartal sei es sehr selten möglich, eine Arbeit zur Reife zu bringen, so der Berliner Dozent Florian Dombois. Vielmehr gehe es bei den Quartalsprojekten darum, den Prozess des Arbeitens und Zusammenarbeitens zu entwickeln. Wenn sich dabei etwas zu einem eigenständigen Wert kristallisiere, sei das zwar willkommen, aber für den Lernprozess eben nicht zwingend.

Hier, schien dem Gast, kamen zwei Dinge zusammen: die Anmutung des Hauses und die Vorstellung des Dozenten. Ein Prozess ist bedeutender als ein Zustand. Und eine eigentliche Hervorbringung benötigt sehr oft mehr Zeit als ein Quartal; manchmal aber auch nicht. Im Vorzimmer stellten eine Tänzerin und ein Komponist eine Videoarbeit vor. Zwei kleine Monitore auf dem Boden zeigten in mittellangen Einstellungen Kräne, einen in Zeitlupe kollabierenden Bücherstapel oder eine Druckmaschine in Nahaufnahme, deren Funktionsweise von einer Stimme aus dem Off erklärt wurde. Die Monitore spielten denselben Film, aber zeitversetzt; die Tonspur wechselte zwischen schrill und monoton. Er blieb lange vor der Installation stehen.

Als er das Haus verliess, fühlte er, was er bei seiner Ankunft schon gefühlt hatte. Er wollte zur nächsten Strasse vorgehen, allein deswegen, um dem, was er im Dachstock miterlebt hatte, nicht zu nahe zu treten. Ganz so, als hätte jemand ein Recht darauf. Worin bestünde dieses Recht?

“Quartalsprojekte Modelle/Models” der ZHdK-Studierenden im Master Transdisziplinariät. Dozenten: Florian Dombois, Patrick Müller, Basil Rogger, Irene Vögeli. Besuch am 10. April 2012.

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