Observatio V
Die Veranstaltung
Was: Weiss hören – Hören hören
Wo: Zürcher Hochschule der Künste
Wann: 14.01.2012 bis 15.01.2012
Bereich: Observer in Residence Perikles Monioudis
Von Perikles Monioudis, 14.1.2012
Das Mädchen mit der blauen Jacke staunte vor dem sprechenden Klavier. Es war sicher, sich nicht verhört zu haben; das Klavier hatte ganz deutlich Sätze von sich gegeben, eine männliche Stimme war zu verstehen, ein verständlicher Satz in deutscher Sprache, wie auch er, ein paar Schritte von dem Mädchen entfernt, hören konnte, eine Deklaration, sie lautete: «Im Alter von 82 Jahren verliess ich in Folge der deutschen Invasion mein Heim in Wien und kam nach England, wo ich mein Leben in Freiheit zu enden hoffe.» Er hätte das «Gesagte» auch verstehen können, ohne dass er genau hingehört hätte, denn hinter dem sprechenden Klavier wurden die Worte an die Wand projiziert. Das Mädchen stand mit vor Erstaunen geöffnetem Mund beim Klavier, an dem eine Vorrichtung befestigt war, deren Metallstifte, elektronisch befeuert, die Klaviatur bedienten.
Die höfische Gesellschaft kannte sprechende Musikinstrumente und sprechende Puppen, Schach spielende menschliche «Automaten», in denen in Wahrheit ein richtiger Mensch steckte. Man liess sich etwas vorgaukeln, fasziniert von der eigenen Imagination eines wie auch immer menschenähnlichen Automaten, wollte teilhaben an einem Wunder, zumindest einer technologischen Neuheit ausserordentlichen Ranges, und liess darob jeden Zweifel im süssen Augenblick fahren. Er blickte sich um. Ausser ihm und dem Mädchen war der Saal im ersten Stockwerk des Museums der Künste menschenleer; auch im Klavier wusste er keinen sprechenden Menschen – wohl im Gegensatz zum Mädchen, das nun das Klavier in langsamen Schritten zu umkreisen begann.
Er verliess den Saal. Der die Deklaration gesprochen hatte, war Sigmund Freud, bei seiner Ankunft 1938 in England, wo er ins Exil ging und sich ein Jahr und drei Monate später, vom Krebs gezeichnet, das Leben nahm. Der Tiefenpsychologe, dessen Worte man in die Klaviatur geschlagen hatte, hätte dem Instrument keine Vernunftbegabung zugesprochen, geschweige denn eine Seele. Er hätte, wäre ihm die zweifelhafte Gnade eines unmenschlich langen Lebens zuteil geworden, an der Digitalisierung unserer Lebenswelt teilzunehmen, die Spielerei wohl gemocht, ganz der Überzeugung, dass das Schuldbewusstein der Menschheit der Ausgangspunkt jeder Kultur sei. Denn erfasst einen nicht unweigerlich zumindest ein Gefühl der Schuld in Anbetracht des sprechenden Klaviers, das doch so lange Zeit schweigen musste, bevor wir endlich in der Lage waren, es zum Sprechen zu bringen?
Peter Ablinger, ein Landsmann Freuds, hat die Tonaufnahme von Freuds Worten digitalisiert und mit Hilfe der dem Klavier seit je zur Verfügung stehenden Oktaven nachgebildet. Das Klavier spricht, weil es die Laute hervorzubringen vermag, die auch unsere Stimmbänder erzeugen können. Auch das Gegenteil wäre möglich. Eine noch zu bestimmende, bestimmt grosse Anzahl Menschen könnte die Töne eines Klaviers imitieren, dergestalt, dass eine Klaviersonate Beethovens erklänge – ganz ohne technologischen Aufwand.
Im unteren Saal wurden derweil konzertante Werke Ablingers gegeben. Es rauschte laut aus den Lautsprechern, unterbrochen und begleitet von Geigen. Wie mit dem sprechenden Klavier verfolgt der Komponist und Installationskünstler mit seinen Stücken die Spuren des Hörens im Hören. Was hören wir, wenn wir hören? Wie klingen Farben und geometrische Figuren?
«Weiss hören – Hören hören», lautete denn auch das Motto der Ausstellung im Museum der Künste, die unter anderen die Werke «Schneckengehäuse» und «Weiss» (für zwölf Kassettenrekorder) umfasste. Ersteres besteht aus drei handgrossen Schneckenhäuschen und macht dem Besucher klar, dass man nicht das Meer hört, wenn man eines gegen das Ohr hält, sondern die durch das Schneckenhaus geformten Umgebungsgeräusche, gefiltert zu einem Rauschen. Die zwölf Kassettenrekorder wiederum geben einen mehrfach und überlagert aufgenommenen gesprochenen Satz wieder, der sich in der mannigfachen Überlagerung wie Glockenläuten anhört.
Als er das Museum verliess, sah er das Mädchen mit der blauen Jacke wieder. Sie drückte sich ein Schneckenhaus ans Ohr und lächelte vor sich hin.
«Weiss hören – Hören hören», Peter Ablinger an der Zürcher Hochschule der Künste, 14. und 15. Januar 2012. Besuch am 15. Januar.