Observatio III – Violence against language

kulturkritik.ch - Bildmaterial zur Verfügung gestellt

Die Veranstaltung

Was: reART:theURBAN
Wo: Theater Gessnerallee
Wann: 25.10.2012
Bereiche: Bildende Kunst, Observer in Residence Ruth Schweikert, Performance

Observer in Residence

Die Schriftstellerin Ruth Schweikert besucht Veranstaltungen der ZHdK um schriftlich darüber zu reflektieren. Ihre Eindrücke als Observer-in-Residence sollen zur Diskussion beitragen und dabei disziplinenübergreifende Aspekte berücksichtigen.

Die Autorin

Ruth Schweikert: Geboren 1964, Schriftstellerin und Theaterautorin sowie Dozentin an der Hochschule der Künste Bern, lebt in Zürich.

Von Ruth Schweikert, 22.11.2012

Eindrücke von der «interdisciplinary conference ReART:theURBAN», 25. – 27. Oktober 2012

«You can’t summarize», meint der Sitznachbar zur Rechten am späten Freitagnachmittag leicht entnervt, nachdem sieben oder acht «Botschafterinnen» genau das versucht haben, nämlich die Ergebnisse von etwa vierzehn verschiedenen «Table Talks» in insgesamt fünfzig Minuten zusammenzufassen; «lieber ein paar Punkte herauspicken und diese diskutieren», bestätigt ein anderer, und ich pflichte ihm bei; es seien ja die Ergebnisse der Gespräche, so man überhaupt von Ergebnissen reden wolle und könne, weniger wichtig und interessant als der Prozess des Diskutierens selbst, das Ins-Gespräch-Kommen mit anderen Menschen, mit Berufsleuten unterschiedlicher Disziplinen, das Wahrnehmen ihrer spezifischen Denk- und Sprechweisen und damit der Fragestellungen, mit und an denen sie arbeiten.

So ähnlich, scheint mir, formuliert es auch das Grusswort der TagungsorganisatorInnen, «the objective (…) is not to provide answers and solutions, but to raise qualified questions and proposals across various disciplines…», aber «natürlich» ist die Versuchung gross, allen Teilnehmenden alles zugänglich machen zu wollen, und «natürlich» wollen die meisten Teilnehmenden alles von allen Panels wissen, wären gern überall dabei gewesen, hätten sich am liebsten gevierteilt, wären gern selber Stadt geworden, Grossstadt. Kein Wunder beim überbordenden Programm der Konferenz, seiner Neigung zum Totalen, zur (intellektuellen) Besetzung des ganzen städtischen Territoriums in all seinen Aspekten und Facetten.

Teilnahme ohne Teilhabe

Es ging (und geht mir auch im Rückblick) nicht anders: das Programm, die schiere inhaltliche und personelle Fülle, all die vielen Räume – und in jedem geschieht etwas –, ja, allein der Büchertisch!, Lektüre für viele Wochen auf einer einsamen Insel ohne Mann und Kinder, elektrisierten mich, jagten mir, die ich Massen schlecht ertrage, Schauder der Zugehörigkeit durch den Körper, ich bin dabei, ich bin Teil von etwas, nehme teil und habe teil – darüber wird denn auch verhandelt in einem der Workshops, über die Unterschiede zwischen Teilnahme und Teilhabe, anhand soziokultureller Projekte, die Menschen als TeilnehmerInnen von Theaterprojekten einbinden, die von einer politischen Teilhabe ausgeschlossen sind; dass die Theateraufführungen meist nur von Bekannten und Freunden der Auftretenden besucht werden, stellt ein zusätzliches Problem dar. Gleichwohl kann die Teilnahme ohne Teilhabe Teil eines Selbstermächtigungsprozesses sein.

Es werden also wie versprochen qualified Fragen aufgeworfen in internationalem Basic-English; nicht alle TeilnehmerInnen können sich dabei gleichermassen qualified ausdrücken, was einen deutschen Musiker erfreulicherweise dazu animiert, seine Gedanken zu «How can art change the society» zwischen deutsch und englisch changierend sowie hin und her schreitend zu entwickeln, Media industry makes more Umsatz than Rüstung oder Autoindustrie, nur wo es einen Konflikt gibt, can change überhaupt stattfinden, der ja zum Imperativ geworden ist, zum regime of change, stattdessen sollten wir einen regime change anstreben. Zu Wortspielereien und Sprichworten wird Slavoj Zizek später Erhellendes sagen; im Moment bin ich fasziniert. (Schade übrigens, gibt es keine TeilnehmerInnenliste, ein echtes Versäumnis, scheint mir, auch wenn sich dadurch vielleicht nur die Anzahl der Veranstaltungshinweise in meiner Inbox drastisch erhöht hätte).

Potenzial und Potenz

Die Fragestellungen der Tagung – wenn auch vorsichtig und komplex formuliert, aber doch in die Richtung gehend von: «Wie kann Kunst unser (Zusammen)Leben verbessern?», «Was kann Kunst leisten für die Gesellschaft» –, hatten mich im Vorfeld eher irritiert; die neuen Rechtfertigungsstrategien – «Kunst und Kultur sind die Staatsausgaben wert, weil sie identitätsstiftend wirken (sollen), Partizipation der vom politischen Leben Ausgeschlossenen ermöglichen (s. o.), und – vor allem – ein ernst zu nehmender, wachsender Wirtschaftssektor sind» – verharmlosen und domestizieren meiner Meinung nach das Potential und die Potenz von Kunst als Spiel- und Simulationsraum, der sich Kategorien wie Nützlichkeit und Brauchbarkeit entzieht.

So waren wir in der Gessnerallee versammelt: Künstler und Wissenschaftlerinnen, Männer und Frauen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher geografischer, sozialer und kultureller (und religiöser?) Herkunft; ein Schweizer Theatermacher zum Beispiel, der vornehmlich in Deutschland arbeitet, trifft auf die norwegische Künstlerin, die seit langem in den USA lebt; die Begegnung ist so interessant wie es die Arbeiten der beiden sind; bei Andreas Liebmann beeindrucken mich die Einfachheit und Direktheit seines künstlerischen Zugriffs, der geprägt scheint von einer existentiellen Neugier, gesellschaftliche Phänomene wie den «Deutschenhass» der Schweizer, die ungeheure sprachliche Vielfalt in urbanen Räumen oder unseren Umgang mit Krankheiten dokumentarisch zu (er)fassen und sie auf der Bühne oder auf offener Strasse zu verhandeln – brisant, amüsant und geistreich – auch wenn mich der Verdacht beschleicht, dass ich nicht viel verpasst habe, wenn ich die Arbeiten nur im Schnelldurchgang gesehen habe, als Dokumentation.

Warum aber wäre das so? Weil ich mir vieles vorstellen kann aufgrund der Dokumentation, und das Ereignis selbst vielleicht vor allem von der Idee lebt und von den Menschen, die sich daran beteiligen – als Zuschauerin käme ich mir ein wenig vor wie eine Voyeurin, die sich an Privatem ergötzt, was wohl genau die Nahtstelle ist, die Liebmann interessiert, warum bleiben welche Phänomene privat? Auch zur Debatte, ob der öffentliche Raum verschwindet oder alles öffentlich wird, auch das Private, wie wir in Social Media und auch in der Kunst tagtäglich sehen, hat Zizek Erhellendes zu sagen.

Auf Baudelaires Gedichten durch Zürich

Was war das Eindrücklichste, was du bislang gesehen oder gehört hast, fragt mich ein Bekannter am Samstagmittag, und meine Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen (Zu: «Redeweisen» siehe weiter unten): Lukas Bärfuss.

Thema war: Bilder der Stadt in den Künsten: Wie werden Städte dargestellt und reflektiert in Poesie, Film und Performance? Zuerst ärgerte ich mich über das einschlägige Vokabular und die routinierte, seltsam ideologisch geprägte Betrachtungsweise der jungen Filmwissenschaftlerin («Dokumentarfilme haben im Gegensatz zu Spielfilmen den Anspruch, die Wirklichkeit zu verändern»), daraufhin wurde uns ein interessanter Versuch präsentiert, mit (DDR)-Geschichte touristisch umzugehen, mit Stasigeschichten im Ohr durch Ost-Berlin; löblich durchaus, dachte ich, und dann kam Lukas Bärfuss mit seinem Essay.

Zunächst tastend – ich bin in Thun aufgewachsen, komme aus der Kleinstadt, nichts legitimiert mich, über Stadt und Grossstadt zu sprechen – entfaltet sich der Text und entpuppt sich als buchstäblich atemberaubender Versuch, sich Erfahrungs- und Denkräumen auszusetzen; sein «Ich» in die Waagschale werfend, geht er mit Baudelaires (Paris)-Gedichten durch das heutige Zürich; ein nicht lautes, aber bewegendes Plädoyer für das «Sich-Involvieren», für die innere Beteiligung des Künstlers an dem, was er schreibt, malt, erzählt, darstellt, performt, und ich denke an Markus Lüpertz, der in einem Gespräch (nachzulesen in: Der Kunst die Regeln geben) sinngemäss gesagt hat, der Philosoph und Wissenschaftler stellt die Welt in Frage, der Künstler sich selbst.

Das ist es, was Lukas Bärfuss vorführt, er bleibt nicht stehen beim Ich, aber das Ich bleibt sein Pfand, das er in die Waagschale seines Denkens wirft; und mit Baudelaire appelliert an die Kraft und die Notwendigkeit der Imagination. Das, was nicht sichtbar ist, die Frau, die hinter geschlossenen Vorhängen sitzt – nicht diejenige, die sich im hell erleuchteten Wohnzimmer der Stadt präsentiert –, die im Dunkeln sitzen, können kraft der Imagination in Erscheinung treten. Es wird mäuschenstill im Raum, und ich denke, das ist es, was Kunst vermag, wenn sie im Ursprung «authentisch» ist – vergleiche dazu mein Bericht von der Tagung «Künstlerische Darstellungsformate im Wandel» –, geleitet von einem Erkenntnisinteresse, das nicht bei sich selbst stehen bleibt, sondern zum «Anderen» hinführt, zum Fremden, zum Unbekannten. Das aber erinnert mich an die Definition der Stadt, wie sie Dirk Baecker in Anlehnung an einen Theoretiker, dessen Name mir entfallen ist, vorgestellt hat: Strangers living together. Und wir wollen, dass der Andere ein Fremder bleibt, damit wir ihn in Ruhe lassen können und er uns in Ruhe lässt. Soweit so gut und angenehm – ist das der Grund für die plötzliche Stille, die sich nach Lukas Essay im Raum ausbreitet? Ist der Text ein Fremder, der uns nicht in Ruhe lässt, sondern uns auffordert, in Bichselschem Sinne zu schauen, nach innen ebenso wie nach aussen?

Keine Diskussion

Die Moderation schlägt vor, den Text nicht zu diskutieren, als hätte er ihr die Sprache verschlagen, und das ist wohl auch so – dabei könnte und müsste man über diesen Text diskutieren, der im Kontext der Tagung unterging, vor 25 Leuten; ich hoffe, er ist dort wenigstens auf Grund gesunken und wühlt den Bodensatz auf von Gewissheiten, Vokabularen und jener Selbstgenügsamkeit, die uns im Rahmen einer solchen Konferenz zuweilen beschleichen mag.

Nein, ich will die diversen Eindrücke nicht auf einen Nenner bringen, sondern Widersprüche als Stadtteile der zu errichtenden Textstadt begreifen, frei nach Dirk Baeckers Bonmot, man solle versuchen, auf authentische Wiese nicht identisch zu sein mit sich selber, beeing authentically not identical to yourself – englisch klingt es besser in meinem Ohren –, ist es eine jener Wortspielereien, die nach Zizekscher Analyse schreien?; bin ich damit eher im Modus des Sprichworts und damit im Modus der Bejahung von Sprache als Erkenntnismittel, oder schon im Modus der Violence, der von Elfriede Jelinek geforderten Torture der Sprache, also Folter oder Sprachmisshandlung, laut Zizek der einzige Garant für die Nicht-Missbrauchbarkeit von Kunst als Religion bzw. als Ideologie.

Auftritt Zizek

Womit wir bereits bei IHM sind, Slavoj Zizek. Auch wenn wirklich ALLES, was er sagte, im Dienst des Gegenteils stand, lässt er sich nicht anders beschreiben: Als Messias. Und der Messias kam zuletzt, wie es sich für einen Messias ziemt, erst die Zeit des Wartens und einer bangen Hoffnung macht ihn zum Verkünder; die Halle war voll, auch die eigentliche Bühne mit Zuhörern gefüllt, sodass ER gleichsam auf der Empore der zum Tempel geupgradeten Halle erschien, und ich gebe es gerne zu, er wurde seiner Rolle gerecht; schiefend und gut gelaunt sprach er über die zentrale Wunde jeder Kunst: Dort, wo sie zur Ideologie wird oder im Dienste einer solchen steht, ja, wie sehr der Hero «Kunst» braucht, den einen Satz, um zum Hero zu werden, um Dinge zu tun, die er «natürlicherweise» nicht tun würde, und wie schnell so etwas geschehen kann.

Eigentlich wäre Zizeks Rede – genau wie auch diejenige von Lukas Bärfuss – ein Ausgangspunkt gewesen für die ganze Tagung; für die Frage, ob der öffentliche Raum tatsächlich verschwindet (etwas launig vorgeführt am Beispiel eines Pornodrehs im Tram; vom kopulierenden Paar nimmt niemand Notiz, alle schauen betreten weg), ob der Mensch, wenn er sich (religiösen) Ideologien unterwirft, dafür nicht weniger, sondern mehr Freiheit bekommt, eine Freiheit, die auf Kosten der anderen geht, des Verhaltenskodex, der immer ausdifferenzierter wird.

Die zentrale Frage aber für die Kunst, ob im städtischen Kontext oder sonst wo: Was heisst es konkret, Sprache (und damit meine ich auch die Bildsprache) so zu malträtieren, auf dass sie die Wirklichkeit, auf die sie sich bezieht und die sie sprachlich gestaltet, zur Kenntlichkeit entstellt, statt unter dem Deckmantel der Nützlichkeit (Stadtverschönerungs)Kosmetik zu betreiben. Die Frage kann und soll nicht beantwortet werden, aber sie soll als Frage uns alle begleiten, ein Stachel im Fleisch der Creative Community, der wir angehören.

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