Observatio I – Gestaltung von Authentizität?

kulturkritik.ch - Bildmaterial zur Verfügung gestellt

Die Veranstaltung

Was: Künstlerische Darstellungsformate im Wandel
Wo: Zürcher Hochschule der Künste
Wann: 28.09.2012 bis 29.09.2012
Bereiche: Musik, Observer in Residence Ruth Schweikert, Performance

Observer in Residence

Die Schriftstellerin Ruth Schweikert besucht Veranstaltungen der ZHdK um schriftlich darüber zu reflektieren. Ihre Eindrücke als Observer-in-Residence sollen zur Diskussion beitragen und dabei disziplinenübergreifende Aspekte berücksichtigen.

Die Autorin

Ruth Schweikert: Geboren 1964, Schriftstellerin und Theaterautorin sowie Dozentin an der Hochschule der Künste Bern, lebt in Zürich.

Von Ruth Schweikert, 19.11.2012

Ein zeitverzögerter Rückblick auf die Tagung «Künstlerische Darstellungsformate im Wandel», 28./29. September 2012.

Die nachhaltigsten (Sinnes)Eindrücke (ich musste meinen Besuch auf den Samstag, 28. Sept. beschränken) hinterliessen zweifellos die Performance «Geistige Umnachtung» der Theatergruppe «Schauplatz international» sowie das anschliessende Podiumsgespräch, beides im rabiat abgedunkelten Vortragssaal der Zürcher Hochschule der Künste; keine geistige, sondern eine physische, kollektive Umnachtung während immerhin knapp zwei Stunden; eine starke Setzung, die unterstrichen wurde durch das im Vorfeld von der Moderatorin ausgesprochene Verbot, den Saal zu verlassen.

Eine rechte Zumutung also für die Zuschauerinnen und Zuschauer, die gezwungenermassen zu Zuhörerinnen und Zuhörern degradiert wurden. Die Alltagserfahrung von Blinden oder stark Sehbehinderten als künstlerische Versuchsanordnung, ein Format, das indessen, so will es mir scheinen, nicht zum Ziel hatte, die Lebensrealität von blinden Menschen «abzubilden» bzw. erfahrbar zu machen, sondern die Anwesenden, nun ja, zu provozieren, ihre Erwartungen an eine (wilde?) Performance zu enttäuschen, sie zu konfrontieren mit dem Entzug derjenigen Sinnesebene, die für die meisten ZeitgenossInnen die wichtigste ist, weil sie vermeintlich sofortige Einschätzung, ja Kontrolle über das Geschehen und das Gegenüber ermöglicht – Alter, Geschlecht, Aussehen, allfällige Gefahrensignale, etc.

Und wer von uns würde statt Fotos Tonspuren der Ferienreisen mit den (Facebook)Freunden teilen? Aber natürlich ging es nicht nur darum, dem Publikum etwas vorzuenthalten, sondern eher darum, seine Aufmerksamkeit zu erhöhen für das, was stattdessen geschah.

«Dunkelheit»

Und das war viel und vielfältig. Zum Beispiel die Empfindung, als Anwesende in einem intimeren und privateren Raum zu sein – niemand sieht mich, ergo bin ich weit gehend entlastet von der sozialen Komponente einer Theatersituation und kann mich der Müdigkeit hingeben oder dem Nägelkauen, andererseits nehme ich mich viel stärker als Teil eines Kollektivs wahr und bin damit auch mit der eigenen Neigung zu Anpassung, Unterwerfung oder Rebellion konfrontiert; einige wenige verliessen nach einiger Zeit den Saal, zusätzlich angestachelt wohl durch das Verbot, während andere ihren Unmut lautstark (und durch die Dunkelheit geschützt) äusserten; die meisten indessen blieben gehorsam auf ihren Plätzen (ich auch), obwohl sich mit zunehmender Dauer der Veranstaltung ein Unbehagen breit machte, werde ich hier als Publikum zum Versuchskaninchen, lasse ich mich zu stark manipulieren, verliere ich die Autonomie, gebe ich die persönliche Freiheit, mich für oder gegen etwas zu entscheiden, preis, und warum tue ich das?

Es waren durchaus unangenehme Fragen, die sich mir stellten, die indessen weniger mit dem akustisch Dargebotenen zu tun hatten (Gespräche über die Situation «Dunkelheit» sowie eine Art Präsentation der bisherigen Theaterprojekte der Gruppe, indem Fotos derselben beschrieben wurden), als mit dem Format selbst – siehe oben.

Nachhaltige Wirkung

Das alles schreibe ich am 1. November 2012; mit einer zeitlichen, aber nicht unbedingt emotionalen Distanz; man könnte die Wirkung der Tagung als durchaus nachhaltig beschreiben, auch an den «Vortrag über das Vortragen» erinnere ich mich, der mich dann in Bann zog, wenn er Wissen vermittelte, etwa dasjenige über den Zusammenhang zwischen Architektur und dem Dozieren, wenn der Professor (Professorinnen gab es damals noch nicht) direkt aus dem Allerheiligsten trat, (dem Forschungslabor, der Krankenstation), das nur ihm zugänglich war, und quasi von dort aus dozierte und eben dorthin auch wieder verschwand.

Welch ein demokratischer (?) Wandel hat da stattgefunden, wenn man an die Uni heute denkt, wo die Studierenden das, was die Vortragende sagt, via iPhone oder Laptop live auf seine Richtigkeit überprüfen bzw. die Quellen des professoralen Wissens transparent machen, was zweifellos zu einer dramatischen Verschiebung der Machtverhältnisse führt, wobei hier wohl das Format der Dozierenden den Ausschlag gibt: wer nicht mehr zu sagen hat als was auf Google zu finden ist, ist am falschen Platz.

Schnitt: Gestern Abend war ich seit langem einmal wieder im Kino, Amour, der neue Film des Altmeisters Michael Haneke (siehe Kulturkritik dazu), ein altes Ehepaar, gespielt von wirklich alten Schauspielern, Jean Louis Trintignant und Emanuelle Riva, beide über achtzig. Der Film lebt von dem, was die Kamera zeigt, (Innen)Räume, Gesichter und Körper, von den behutsam und scharf gesetzten Dialogen, nicht aber von der Geschichte, die im Kern zutiefst undramatisch ist (es stirbt nicht etwa ein Kind, es gibt keine weiteren Katastrophen, die Protagonisten sind wohlhabend) und deren Ende von Anfang an bekannt ist: Die Frau wird sterben. Erzählt wird, wie das alte Paar seinen Weg geht vom ersten Schlaganfall bis zu Annes Tod.

Authentizität, Zufälligkeit, Impuls

Warum ich im Zusammenhang mit der Tagung darüber schreibe? Das eben versuche ich herauszufinden; es muss mit dem irgendwie unsäglichen und doch oft verwendeten Begriff der Authentizität zu tun haben.

«Inwiefern führen etwa die neuen Authentizitätsstrategien, die heutzutage in verschiedenen Disziplinen erprobt werden, zu neuen Formaten?» lese ich auf dem Tagungsflyer, und das erinnert mich, worüber ich hauptsächlich schreiben wollte und will, den Workshop von Sarah Owen, «Flawed Mastery, Zur Gestaltung von Authentizität im Design» und die damit verbundenen Fragestellungen. «Mangelhafte Meisterschaft», so etwa könnte man den Titel übersetzen, und damit sind tatsächlich Strategien gemeint, um das herzustellen, was man als «authentisch» bezeichnet, aber was genau wäre das? Das von Laien Hergestellte, den selbstgestrickten Schal, den handschriftlichen Dankesbrief, der keinen künstlerischen Anspruch hat, d. h. dessen Form höchstens Ausdruck ist eines «natürlichen» Bedürfnisses nach Schönheit, und dem somit immer etwas Zufälliges eignet?

Genau diese Zufälligkeit wird nun mit allen Mitteln der Kunst gesucht – und durch die Hintertür des nachträglichen Fehlereinbaus auch gefunden. Das mag möglich sein im Design, aber unmöglich zum Beispiel im Theater oder auch in der Literatur; wer literarisch schreibt, ist auf den Zufall angewiesen, auf das, was einem beim Schreiben unterläuft – nachträglich kann man und muss man sich dazu verhalten; was bleibt drin in einem Text, was kippe ich raus zugunsten von Kohärenz und Konsistenz.

Daran schliesst sich für mich eine dringliche Frage: Kann «Authentizität» überhaupt eine Zielqualität eines künstlerischen Produkts sein? Ich meine, nein. Hatte Haneke zum Beispiel im Sinn, Annes zunehmende Hinfälligkeit so authentisch wie möglich, also so glaubwürdig wie möglich darzustellen? Ich bezweifle es. Hingegen halte ich es für durchaus möglich, dass ihn Authentizität als Motor interessiert, als Ausgangspunkt einer Filmidee, als Ausgangspunkt seiner Arbeit.

Das ist auch meine Frage, mein Anspruch als Künstlerin besteht gerade eben nicht darin, ein Produkt authentisch erscheinen zu lassen, das erschiene mir falsch, und zwar sowohl moralisch wie ästhetisch. Dennoch möchte ich den Begriff der Authentizität nicht einfach fallen lassen: Dass es sich bei «Authentizität» um etwas Nachträgliches handelt, um die Rekonstruktion von etwas Ursprünglichen, das es so allerdings nie gegeben hat, das scheint mittlerweile ein Gemeinplatz zu sein (wie sonst käme man zum oben genannten Workshop-Titel?); mich irritiert dieser Gedanke.

Was mich nämlich bewegt, ist eben der Ausgangspunkt jeder künstlerischen Arbeit, der Impuls, der ihr zugrunde liegt, und der noch nicht bestimmt ist vom Gedanken an das Produkt, das dereinst vielleicht als Ergebnis vorliegt, sondern einzig von der Suche nach etwas, das in diesem Moment weder ein Thema noch ein Format hat.

Weiterlesen: