Nach der Bohème

Die Veranstaltung
Was: Mir Händs Nötig 2.1
Wo: Starkart Exhibitions, Brauerstrasse 126
Wann: 31.08.2012 bis 30.09.2012
Bereiche: Bildende Kunst, Digitale Medien, Keine, Performance
Der Autor
Tilman Hoffer: Jahrgang 1988. Studierte Soziologie, Philosophie und Literarurwissenschaft an der Universität Zürich, gegenwärtig Geschichte und Philosophie des Wissens an der ETH. Ist literarisch tätig.
Die Kritik
Lektorat: Gabriele Spiller.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: starkart (siehe Unabhängigkeit).
Von Tilman Hoffer, 3.9.2012
Die Wand neben dem Eingang zu den starkart-Ausstellungsräumen ziert niemand geringerer als Charles Baudelaire in grellem durchdringendem Gelb. Direkt neben dem legendären poète maudit hängt ein weiteres Portrait, das den Helden der Beat Generation, William Burroughs, zeigt. Ein literarisches Kriterium wird es wohl kaum sein, das die beiden verbindet, eher ihr selbstzerstörerisches Verhältnis zum Schreiben, ihr genialisches Scheitern im Leben und ihre Vorliebe für Haschisch und diverse Opiate. Bohème – ein klangvoller und facettenreicher Begriff, mit dem allerdings leider in den letzten hundert Jahren zu viel Schindluder getrieben wurde, um ihn noch ernsthaft benutzen zu können. Bei starkart (vom englischen und leider unübersetzbaren stark) bleibt die Frage des labeling glücklicherweise bewusst ausgeklammert. Roman Leu, der Initiator der Ausstellung «Mir händs nötig», möchte eher die Kunst zurück ins Leben bringen. Er organisiert die Ausstellung quasi im Alleingang, er ist angespannt und übermüdet, aber seine Gesten bekommen Pathos, wenn er betont, was ihm wichtig ist: der kraftvolle, unverfälschte Ausdruck, der nur aus einer Form der Kreativität entstehen kann, die sich nicht sofort in style übersetzen lässt. Er selbst stammt aus der Graffiti-Szene und möchte back to the roots: den Austausch von Erfahrungen, Ideen und Werken ermöglichen, ohne dass mächtige Institutionen im Hintergrund bereits den Rahmen vorgeben. Jeder kann sich und seine Kunst präsentieren, und jeder Interessierte kann sich mit dem Künstler direkt in Verbindung setzen. Das bedeutet zugleich eine Abgrenzung, und vor allem bedeutet es den Verzicht auf externe Finanzierung.
Nicht zu cool
«Es darf nicht zu cool werden», sagt Roman Leu und lächelt ausnahmsweise. Das Modell, von dem starkart sich abgrenzen will, sind nicht nur die schicken Galerien des etablierten Kunstmarkts, von denen es in Zürich nur so wimmelt und in denen sich dieselbe in-crowd wie überall versammelt. Es ist ebenso das politisch korrekte Hipstertum, das das linksliberale Feuilleton so liebt, weil es sich als leicht verdaulichen Rest einer wie auch immer gearteten Sub- oder Gegenkultur inszeniert. «Man muss verhindern, in eine dieser beiden Kategorien zu rutschen.» Das hat nichts mit Dogmatismus oder Ressentiments zu tun; «Mir händs nötig» soll keine antikapitalistische Protestaktion sein, sondern schlichtweg eine gute Ausstellung, die auf unnötiges Drumherum verzichtet und die Werke selbst wieder in den Mittelpunkt stellt.
Ein erstes Anzeichen dafür, dass dies wirklich funktionieren könnte: Die Leute, die sich nach und nach einfinden, reden tatsächlich über Kunst (ansonsten bei Kunstveranstaltungen eher unüblich); ausserdem sind sie ausnahmslos locker, mitteilsam und freundlich (dito). Man merkt, dass es etwas gibt, das sie verbindet. Ein DJ beschallt die unverputzten Räume, in denen alles ein bisschen wie unter Wasser klingt. Es ist bei weitem kein Massenevent, aber die Stimmung steigt. Als es auf Mitternacht zugeht, ist es schliesslich so, als würde das Haus zum Leben erwachen. In allen Ecken beginnt ein hektisches und enthusiastisches Gewusel: Der Aufbau beginnt, und es ist eine merkwürdig gelungene und liebenswerte Mischung aus Party und work in progress. Als die Anarchisten von der freien Assoziation der freien Individuen sprachen, müssen sie es sich ungefähr so ähnlich vorgestellt haben.
Bunte Vielfalt
Entsprechend schwierig bis unmöglich ist es, aus dem Nebeneinander vieler individueller Positionen so etwas wie einen Trend extrapolieren zu wollen. Die schrillen Avantgarde-Gesten gibt es heute kaum noch, und auch wenige echte ästhetische Verirrungen; hinter jedem Werk steht Leidenschaft dafür, etwas Eigenes zum Ausdruck zu bringen, und einige Werke entwickeln in der Tat eine starke und eigenständige Bildsprache. Den Großteil bilden Fotografie und Malerei, von klassisch-impressionistischen Werken über surreale Fremdwelten, bis zur bunten Bildsprache der Postmoderne voller Popkultur-Referenzen. Doch es gibt auch Videoinstallationen, große Plastiken, Schnitzereien, Ton- und Gipsfiguren; Performances und Konzerte sind angekündigt. Die Ausstellung bleibt sich treu, und das heisst: sie wandelt sich weiter und ist nie vollkommen fertig. «Mir händs nötig» bleibt noch bis Ende September für jeden geöffnet. Der Besuch wird nachdrücklich und uneingeschränkt empfohlen.