Was man den Leuten so alles ansieht

Die Veranstaltung
Was: mercimax: 8:8 Die Gegenüberstellung
Wo: Theater Spektakel, Haus am See
Wann: 28.08.2012 bis 01.09.2012
Bereiche: Performance, Theater Spektakel 2012
Theater Spektakel
Kulturkritik ist Partner des Theaterspektakels 2012. Wir begleiteten das Festival und berichteten live.
Die Autorin
Elena Ibello: 1982 geboren, seit 2003 freie Journalistin. Im Master-Studium Art Education, publizieren&vermitteln, an der ZHdK.
Die Kritik
Lektorat: Dominik Wolfinger.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: Zürcher Theater Spektakel (siehe Unabhängigkeit).
Von Elena Ibello, 29.8.2012
Angenommen, Sie werden Zeuge eines Verbrechens auf offener Strasse. Wenige Tage später stehen Sie im Polizeirevier acht Verdächtigen gegenüber und versuchen den Täter zu identifizieren. Zu Ihrem Schutz stehen Sie hinter einem Einwegspiegel, einer Fensterscheibe, die nur in eine Richtung durchsichtig ist. Und nun heben Sie langsam den Arm und zeigen mit dem Finger auf den Schuldigen. Die Handschellen klicken.
Alles dramatisiert, von etlichen Szenen aus Fernsehserien geprägt. Aber die Ausgangslage ist real, Gegenüberstellungen wurden nicht in Hollywood erfunden, sondern gehören in die Kriminalistik.
Das Zürcher Theaterkollektiv mercimax um Karin Arnold hat daraus eine Performance-Installation gemacht und über mehrere Produktionen weiterentwickelt. Was es nun am Theaterspektakel zeigt, trägt den Titel «8:8 – Die Gegenüberstellung». Dabei sitzen acht Performer acht Zuschauern direkt gegenüber und erzählen Geschichten aus ihrem Leben. Wahre Geschichten und erfundene Anekdoten.
Stimmt, stimmt nicht
Bis die Laienperformer allerdings beginnen, ihre Geschichten zu erzählen, hatten die Zuschauer schon längst Gelegenheit, sich ein erstes «Bild» von ihnen zu machen. Lange sind sie vor dem Publikum gestanden, haben sich von vorne, im Profil, von hinten gezeigt und sich den Blicken des Publikums nicht entzogen. Man hat sie betrachtet, begutachtet und studiert und sich unweigerlich Fragen gestellt wie «Was ist der Mann mit eindrücklicher Statur und Glatze wohl so für einer? Und die junge, zierliche Frau, der die blonden Fransen in die Stirn hängen, was ist sie wohl so für eine?». Und weil diese Gelegenheit des Betrachtens so lange gedauert hat und die Performer soviel Nähe zuliessen, hatte man gespürt, wie die imaginäre Scheibe, dieser Einwegspiegel, langsam und lautlos heruntergefahren und im Boden versenkt wurde. Und in dem Moment war klar: Es könnte auch umgekehrt sein. Jeder könnte auf dieser oder jener Seite der Scheibe stehen.
Der Mann mit der Glatze beginnt: «Manchmal denke ich, man sollte die Sklaverei wieder einführen. Es gibt einfach zu viele Menschen, die nicht wissen, wie sie sich benehmen sollen.» Stille. «Das meine ich wirklich.» Dann kommt der junge, modisch gekleidete Mann mit der leicht getönten Haut und den schwarzen Augen. «Ich heisse Armin Moser und komme aus Oberengstringen», sagt er in breitem Zürichdeutsch. «Das stimmt nicht ganz. Mein Name ist Ramin Mosayebi und auf der Baustelle nenne ich mich jeweils Armin Moser, weil das einfacher ist. Meine Eltern stammen aus Persien, ich bin in Oberengstringen aufgewachsen.» Mosayebi sieht nicht aus, als würde er auf einer Baustelle arbeiten, denkt man. Und da haben wir’s schon wieder. «Sieht nicht aus, als…» Auch die attraktive Dame im gesetzten Alter mit den warmen Augen sieht nicht aus, als hätte sie fünf Jahre in Athens Frauengefängnis verbracht. Stimmt aber, sagt sie.
Urteil und Vorurteil, Schein und Sein
Sie erzählt, wie sie sich mit 42 Jahren zum ersten Mal so richtig verliebte. Sie hatte Mann und Kinder und einen guten Job. Und dann kam der Grieche. «Man weiss, dass man so etwas nicht tut. Man weiss das ja. Aber man kann sich nicht gegen alles wehren im Leben. Es gibt Dinge, die tut man einfach.» Sie wusste: Ihr Liebhaber hat noch andere Frauen. Sie lebte mit dem Gedanken jahrelang. Bis sie ihn erschoss.
Nicht jede Geschichte wird am Ende mit einem «stimmt» oder «stimmt nicht» aufgelöst. Auch diese nicht. Aber diese Geschichte ist schlicht nicht zu glauben. Man hängt dieser Frau keine Schuld an. Und als Zuschauerin spürt man eine kurze Erleichterung, dass man sie nicht verurteilt hat. – Und wenn nun ein anderer der acht Verdächtigen diese Geschichte so oder ähnlich erzählt hätte? Zum Beispiel der reife Herr mit türkischem Namen und sogenannt anständigem Auftreten? Oder der balkanstämmige Jugendliche mit seinem Möchtegern-BMW-VW, weiss mit schwarzen Felgen?
Warum verdächtigen wir wen für was? Wer begeht denn in Wirklichkeit Mord aus Leidenschaft? Klassische Drogendealer und Kleinkriminelle? Oder die nette Dame von nebenan?
Die Form, die mercimax gefunden hat, um das Thema Urteil und Vorurteil, Schein und Sein zu behandeln, ist so naheliegend und einleuchtend wie grandios. Denn nicht nur gibt es den sehr direkten Bezug zur Realität und somit eine fast greifbare Dringlichkeit, sondern die Zuschauer werden auch noch mit einbezogen. Ins Stück und in die Frage nach der eigenen Schuld. Denn jeder Fingerzeig auf einen Verdächtigen fällt auf uns selber zurück. Mercimax zeigt mit «8:8 – Die Gegenüberstellung» etwas, das wir alle längst wissen, aber niemals beherzigen, weil wir immer wieder reinschiessen. Weil es etwas in uns gibt, das schneller ist, als die abwiegelnde Auseinandersetzung mit allen Facetten. Wir sehen mehr als wir sehen. Und das ist meistens falsch.