Was von uns bleibt ist Müll

Die Veranstaltung
Was: Mass & Fieber Ost: «Fall Out Girl»
Wo: Theaterhaus Gessnerallee
Wann: 27.04.2012
Bereich: Theater
Die Autorin
Fabienne Schmuki: Jahrgang 1983. Absolventin des Masterstudiengangs Kulturvermittlung, «publizieren & vermitteln» an der ZHdK. Co-Geschäftsführung eines Schweizer Independent Musikvertriebs; Promotion & Kommunikation. Freelancerin für diverse Print-/Onlinemedien.
Die Kritik
Lektorat: Stefan Schöbi.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: Theaterhaus Gessnerallee (siehe Unabhängigkeit).
Von Fabienne Schmuki, 29.4.2012
Fall Out Girl, die sich für Mary Jane Watson hält, und Bartleby sind auf einer gemeinsamen Reise mit unterschiedlichen Zielen: Sie sucht ihre grosse Liebe Peter Parker (Spiderman), Bartleby will zurück auf seinen Berg, wo der Comic-Händler seine Ruhe geniessen kann. So viel zum roten Faden. Was dann auf dieser radioaktiven Roadshow, wie die beiden ihren verstörten Trip in die Zukunft nennen, geschieht, ist weit von jeder Form linearer Erzählung entfernt.
Das Verrückteste an «Fall Out Girl» sind seine beiden Hauptdarsteller. Scheinbar mühelos finden sich Antonia Labs und Johannes Geisser in der chaotischen Geschichte zurecht, schlüpfen in verschiedenste Rollen, beweisen neben dem schauspielerischen auch ihr musikalisches Talent und eine richtig grosse, erfrischende Portion Humor.
Die heilige Vierfaltigkeit
Im visuellen Zentrum der Produktion steht das Bühnenbild: Eine vierteilige, faltbare Wand. Diese dient mal als Paravan, mal als Projektionsfläche, als Partykulisse, als Versteck. Die Show spielt vor den vier Wänden; was sich dahinter abspielt, bleibt für den Zuschauer nur zu erahnen. Bis der Schutz in der Zukunft dann zunichte gemacht wird. Die Zukunft ist das Ende, sie gehört den Mutanten. Die radioaktive Strahlung hat alles Menschliche zerstört. Was bleibt, ist der Kyffhäuser Berg bei Thüringen, unter dem sich Fall Out Girl und Bartleby in der Zukunft plötzlich auffinden. Dort wartet Donald Duck, der nach einem atomaren Unfall im Kyffhäuser Berg «ent-gelagert» wurde, auf die beiden. Er hat eine schlimme Botschaft für Fall Out Girl bereit: Peter Parker ist zur Spinne mutiert und interessiert sich nicht mehr für seine Frau, sondern nur noch für Fliegen und, nun ja, Spinnen.
Vier Impulse waren es, die zur Entstehung dieses wirren Spektakels beigetragen haben: Der 50. Geburtstag des Superhelden Spiderman, der Impuls der Musik – Johannes Geisser, der Bartleby auf der Bühne Leben einhaucht, ist Musiker, Komponist und Schauspieler; so reichen sich Schauspiel und Rockoper die Hand. Der dritte Impuls kam vom Theaterhaus Jena: Unterhaltung und Nachhaltigkeit sollen in diesem Stück über Radioaktivität zusammenspielen, und dies wurde von der freien Theatergruppe Mass & Fieber OST in aller Konsequenz umgesetzt. Schliesslich Input Nummer vier, das Thema selber: Radioaktivität.
Fall Out Girl heisst: Gesellschaftskritik mit dem Vorschlaghammer. Skurrilität statt zermürbenden Vorträgen. Paranoia zu verbreiten statt vorsichtig zu mahnen. Untergangsszenarien zu prognostizieren statt Heilmittel zu suchen. Tchernobyl, Fukushima, Krebs und Haarausfall – der Zerfall auf jeder Ebene, der Kollaps fusst auf atomaren Experimenten und radioaktiver Strahlung.
Spiegelbild einer kranken Welt
Warum soll eine Theaterproduktion über das Thema Radioaktivität auch nicht verstrahlt rüberkommen? Wo Antonia Labs und Johannes Geisser auf Reduziertheit setzen (beim Bühnenbild und den Requisiten), holen sie auf inhaltlicher Ebene und in Sachen medialer Fülle doppelt und dreifach nach. Sie lassen Marie Curie und Orson Welles auf Video zum Publikum sprechen. Sie führen Zwiegespräche mit Albert Einstein und den Initianten und Mitarbeitern von Netix Corporation, der fiktiven Firma, die mit künstlich gewonnener Spinnenseide kriegstaugliches Material herstellt und dafür selbst Spiderman gewinnen konnte.
Am Ende werden alle zu Mutanten, widerfährt also jedem das Schicksal, das er verdient – auch der Menschheit. «Radioaktivität ist nicht das Todesurteil. Das Leben ist das Todesurteil», zitiert Bartleby. Eine kranke Welt verdient es, einen Spiegel vorgehalten zu bekommen. Und wenn die Spiegelung dann doppelt so krank ausfällt, können einige Dinge auf diesem Planeten wirklich nicht in Ordnung sein. Mit Fall Out Girl steuern wir geradewegs auf den Untergang zu – eine halluzinogene Party, ein orgasmisches Spektakel, das sich in der sexuellen Verbindung von Mutant und Mensch entlädt. Und dann ist man plötzlich weit, weit unter der Erde, begegnet einem in die Jahre gekommenen Donald Duck und ringsherum liegt Abfall. Das Eingeständnis tut ein bisschen weh: Was von uns bleibt ist Müll.