Schmerz­haf­te Ob­jek­te mit Wi­der­ha­ken

kulturkritik.ch - Bildmaterial zur Verfügung gestellt

Die Veranstaltung

Was: Kathrin Borer – Ins Übersprungene und zurück
Wo: Kunstraum R57
Wann: 02.03.2012 bis 23.03.2012
Bereich: Bildende Kunst

Die Autorin

Gabriele Spiller: Kulturvermittlerin, Journalistin und Autorin: http://gabriele-spiller.jimdo.com

Die Kritik

Zu dieser Veranstaltung wurde eine weitere Kritik verfasst.
Lektorat: Lukas Meyer.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: KunstRaum R57 (siehe Unabhängigkeit).

Von Gabriele Spiller, 12.3.2012

Die Bildwelten, in die uns die Künstlerin Kathrin Borer im 18 Quadratmeter kleinen Ausstellungsraum R57 entführt, sind beklemmend. Es schmerzt, ihre Zeichnungen anzusehen, und doch kann man sich ihnen nicht entziehen: Wie eine Spiegelreflexkamera setzt die Baslerin, Jahrgang 1972, einen Zoom auf ein Objekt. Präzise im Strich, bleibt in der Interpretation vieles offen. Denn sie arbeitet meist ohne Intention.

«Ich starte mit einer Idee», erzählt sie, «und diese entwickelt eine Eigendynamik.» Oft lässt sie sich von Orten inspirieren: Ateliers, in die sie eingeladen wurde; Städte, die sie bereist hat. So entstanden beispielsweise die «Daydrawings Nightdrawings» (London Sheets) oder der «Backyard»-Zyklus (Ramallah Sheets) bei einem Besuch der Westbanks. «Ich versuche, auf die grossen Fragen der Welt im Kleinen zu reagieren», beschreibt sie ihre Arbeit. In der Schweiz fehle jedoch die Reibung, deshalb ziehe sie immer wieder los.

Viele Deutungen sind möglich

So entstand bei ihrer Auseinandersetzung mit dem Gebiet, in dem Israel und Palästina ineinander übergehen, das Gefühl, dass beide Seiten die gleichen Sehnsüchte hätten. Dies drückt sie durch den Einsatz von Blau, der klassischen Farbe der Romantik aus. Während ihre Bilder üblicherweise nur mit Bleistift oder Tusche gezeichnet sind, setzt sie punktuell Betonungen. Hier sind es tintenblaue transparente Häuschen, die unter einem Wachturm stehen, oder aus denen Zielfernrohre wie aus einem Panzer ragen. Irgendwann merkte sie, dass ihre blauen Objekte auf Weiss auch den Farben der israelischen Nationalflagge entsprechen. Eine Ironie des Schicksals, so wie die Tatsache, auf welcher Seite man geboren wurde.

In der Serie «Le tapis rouge» rollt sie einladend einen knallroten Teppich aus – doch der liegt auf einem elektrischen Stuhl, auf der Stange eines Vogelkäfigs oder unter einem Schafott. Der Reiz ihrer extrem feinen Zeichnungen liegt im Widerhaken, der sich im Auge des Betrachters verankert. Exemplarisch zeigt sich dies auch an ihren Objekten: der Brille, deren Gläser innen mit Glasstacheln gespickt sind oder den Latschen, durch deren Innensohlen Messerklingen laufen. Borer nennt dies eine «Verschiebung des Alltags». Bei der «Schambürste», einer blauen Zahnbürste mit struppigem Schamhaar statt Borsten, kann man sich fragen, ob man sie erregend oder ekelerregend findet. «Aufregend» ist sie auf jeden Fall.

Zeichnen als performativer Akt

«Ich zeichne sehr langsam, es ist ein performativer Akt», sagt Borer, die in der Tat von der Performancekunst kommt und noch heute am Anfang einer Arbeit nicht weiss, wo sie landet. Dann kapselt sie sich ab und fokussiert ihre Konzentration. Aus der Anspannung entstehen kondensierte Bilder. Es ist eine Bestimmtheit, die den Betrachter zwingt, die aufgeworfenen Fragen zu beantworten – so er sich denn darauf einlässt.

Nicht jeder flüchtige Besucher des Kunstraums in Zürich-Wipkingen wird einen Zugang zu Borers anspruchsvollen Arbeiten finden, doch ist es lohnenswert, sich den provozierenden Werken zu stellen. Die Reduktion auf das Wesentliche ist ihre Stärke; eine Tugend, die der reizüberfluteten Medienkultur häufig fehlt.

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