«Der Tod ist nicht das Äusserste»

Die Veranstaltung

Was: Anstiftung zur Wahlverwandtschaft
Wo: Tonhalle
Wann: 03.06.2012
Bereiche: Literatur, Musik

Die Autorin

Gabriele Spiller: Kulturvermittlerin, Journalistin und Autorin: http://gabriele-spiller.jimdo.com

Die Kritik

Lektorat: Fabienne Schmuki.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: Literaturhaus Zürich (siehe Unabhängigkeit).

Von Gabriele Spiller, 4.6.2012

Zu den «Wahlverwandtschaften» von Literatur und Musik laden das Tonhalle-Orchester Zürich und das Literaturhaus Museumsgesellschaft Zürich regelmässig ein. In diesem Rahmen wurde am 3. Juni das Stück «Alles, was besteht» von Jenny Erpenbeck (Text) und Cathy Milliken (Komposition) uraufgeführt. Die Zuhörer erlebten eine anspruchsvolle Matinee, die fast schmerzhaft nahe an den Abschied einer Tochter von ihrer Mutter heranführte. Ein sechsköpfiges Ensemble unter der Leitung von David Bruchez-Lalli sorgte für die instrumentale Umsetzung.

Die studierte Oboistin Milliken lässt Martin Frutiger am Englischhorn als Ersten einsetzen. Jürg Luchsinger verstärkt die sphärischen Klänge auf dem Knopfakkordeon. Als die Sopranistin Yvonne Friedli beginnt, sucht der Zuhörer einen begleitenden Text. In die gedehnten Silben fallen die Sprecherinnen Silvia Fenz und Laura Tonke ein. Sie beschreiben Tests, um den Tod eines Menschen festzustellen: Die Reflexe bleiben aus.

Dialogische Rückblenden

Die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck lässt in dialogischen Rückblenden das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter noch einmal aufleben. Die Mutter leidet an der Einsamkeit im Alter. «Wenn ich an meine Mutter denke, sehe ich eine Landschaft, die ich von allen am längsten kannte.» Die Tochter, selbst Mutter, übernimmt die Rolle des weiblichen Familienoberhaupts. Immer wieder kreist das Stück um die Begriffe «Übergang» und «übergehen». Der Sopranistin werden grosse Sprünge und durchdringende Rufe abverlangt, was Yvonne Friedli bravourös meistert. Die Sprecherinnen deklamieren ein Ave Maria. Die Gedanken der Tochter gehen ins Metaphorische. Der Prozess des Sterbens und Abschied Nehmens wird immer beklemmender und gipfelt in einer Reminiszenz an die Geburt der Mutter in Ostpreussen, während in Treblinka die ersten 7000 Juden vergast werden. Die Musik umrahmt die Gedanken, nimmt sie auf, entwickelt sich dabei wenig autonom. Nach 45 Minuten erstirbt der letzte Laut. «Alles, was besteht, ist wert, dass es zugrunde geht», lautet das vollendete Fazit.

Dichte Komposition

Roland Wächter, Musikredakteur des DRS2, moderiert im Anschluss ein Gespräch mit den beiden Urheberinnen des Werks. Es sei ein Text, der einen grossen Assoziationsrahmen zulasse, beschreibt er das Gehörte. Ein Text, der schon in hohem Masse instrumentalisiert sei. Die Komponistin erwidert, dass bereits eine Fülle von Reizen im Text vorhanden gewesen sei. So habe sie die Gesangsstimme als Vorahnung zum Text gesetzt, teilweise singe sie nur Fragmente und Andeutungen.

Für die dichte Komposition hat sie auch in den Instrumenten sehr ähnliche Stimmen gewählt (zwei Bratschen: Antonia Siegers und Johannes Gürth, Ivo Gass, Horn, sowie Christian Hartmann, Schlagzeug), die dennoch grosse Intervallsprünge zulassen. Als Wächter ausführt, dass der «relativ harte Text durch die Musik gemildert» sei, räumt Jenny Erpenbeck ein, dass er biografisch gefärbt und für Aussenstehende eigentlich eine «Zumutung» sei. Die von Catherine Milliken gefundene Umsetzung versöhne sie wieder mit ihrem Text.

Überzeugender Vortrag

Dem 15-minütigen Gespräch folgte eine Reprise des letzten Drittels des Stücks, auch weil – so die Begründung – solch moderne Musik selten auf die Spielpläne finde. Es ist schwierig, für eine derartig persönliche Offenbarung eine Kritik zu formulieren. «Alles, was besteht» beschreibt eine Familiengeschichte, zu der man einen Zugang finden kann, oder auch nicht. Im Vortrag wurde das Werk von allen Beteiligten vorbildlich gemeistert. Insbesondere die Dialogstimmen waren mit der 72-jährigen Silvia Fenz und der 38-jährigen Laura Tonke sehr adäquat besetzt. Das Auftragswerk der Tonhalle und des Literaturhauses entfaltet philosophische Reflektionen und regt eigene Assoziationen an. Dennoch bleibt die Frage offen, was jetzt eigentlich das Äusserste sei.

Das Konzert wird am Sonntag, 24. Juni, um 21 Uhr auf DRS2 gesendet.

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