Unfassbare Realität

kulturkritik.ch - Bildmaterial zur Verfügung gestellt

Die Veranstaltung

Was: Abfall
Wo: Kellertheater Winterthur
Wann: 10.03.2012 bis 18.03.2012
Bereich: Theater

Die Autorin

Elena Ibello: 1982 geboren, seit 2003 freie Journalistin. Im Master-Studium Art Education, publizieren&vermitteln, an der ZHdK.

Die Kritik

Lektorat: Lukas Meyer.

Von Elena Ibello, 11.3.2012

«Wenn du wirklich mein Freund wärst, würdest du es machen.» Jan ist ein selbstbewusster junger Mann (Jonas Rüegg). Er liegt im Bett eines Pflegezentrums und erlebt seinen steten Zerfall bei vollstem Bewusstsein und scharfem Verstand. Er leidet an Muskelschwund. Ausser seinem Kopf und seinem linken kleinen Finger kann er nichts mehr bewegen. Seine Eltern wollen von ihm nichts wissen. «Mach’ es endlich!» Seine Aufforderung zur Tat gilt Max (Lukas Kubik). Der ist weit weniger selbstgewiss als Jan, was er zwar geschickt überspielt, aber Jan nicht entgeht. Max ist Zivildienstleistender. Er arbeitet im Pflegeheim, Jan ist ihm zugeteilt. Mit «es machen» meint Jan eine zwar etwas abwegige, aber doch harmlose Sache: Max soll Jan’s Kissen mit einem Plastik-Abfallsack überziehen, damit dieser die kalte, glatte Substanz des Plastiks fühlen kann. Max, der fromme und anständige Zivi, findet das pervers und es ist ihm auch ein bisschen peinlich. Er will nicht. Aber er will dem armen Jan eben auch nicht jeden Wunsch abschlagen.

Zum Zeitpunkt, als Jan «seinen» Zivi Max um dies bittet, kennen sich die beiden schon eine Weile. Es ist eine Freundschaft entstanden. Und eine Abhängigkeit. Beide sind aufeinander angewiesen, beide sind auf ihre Art hilflos. Ohne Max’ Betreuung kann Jan schlicht nichts tun. Max wäscht ihn, kleidet ihn, spielt mit ihm Schach. Und Jan spielt mit Max andere Spiele. Er lotet ständig die Grenzen seines Zivis aus. Versucht mit verbaler Barschheit herauszufinden, wie Max auf was reagiert und macht sich zunutze, dass Max, der nicht viele Freunde hat, Jans Freundschaft anstrebt. Er testet auch, wie weit Max dafür zu gehen bereit ist, und nutzt die Unsicherheit und Naivität seines Zivis aus.

Sterbehilfe spielen

Schon nach zehn Minuten Spiel werden diese Abhängigkeiten deutlich. Nur Max scheint sie nicht zu registrieren. Und dies wiederum wird durch Jan registriert. Dieser baut immer mehr Druck auf. Knüpft die Freundschaft immer öfter an Bedingungen, zeigt Stärke, Willenskraft und teils anstössigen Galgenhumor, der Max zu weit geht. «Pimmel, Pimmel, bald kommst du in den Himmel!» Und manchmal zeigt Jan auch Zweifel, Schwäche, Hoffnungslosigkeit. «Warum? Was habe ich getan, dass ich hier so vor mich hinfaulen muss?» Mit diesem Wechselspiel, das vermutlich nicht immer nur Spiel ist, hat er Max bald im Griff. Soweit, bis dieser ihn tötet. Auf eine Art und Weise, wie Max wohl selber nie und nimmer auf die Idee gekommen wäre. Er packt ihn in Abfallsäcke ein und wirft ihn in den Müllcontainer, wo Jan bald darauf stirbt. Und dies alles auf Jan’s ausdrücklichen Wunsch. Max meint, Jan habe alles so vorbereitet, dass er alsbald wieder aus dem Container geholt werde. «Es ist ja nur ein Spiel!»

Eine ganz normale Entwicklung

Lukas Kubik und Jonas Rüegg nähern sich diesem unfassbaren Ende in einer Weise, wie unsereiner beim Kochen auf das fertige Nachtessen hinarbeitet. Ihr Spiel ist gerade darum so überzeugend, weil es wenig Spektakuläres hat, dafür umso mehr Wahrhaftigkeit. Das Stück unter der Regie von Doris Strütt nimmt einen scheinbar ganz natürlichen Verlauf, die Beziehung dieser zwei jungen Männer wächst und wächst, die Zuneigung wird grösser und plötzlich stecken sie in einer Situation, die von aussen betrachtet nicht absurder, nicht unfassbarer, nicht schlimmer sein könnte: Ein Freund packt einen Freund, der sich nicht einmal wehren könnte, wenn er denn wollte, wie ein Stück Abfall fein säuberlich in Müllsäcke, verklebt ihm den Mund und schmeisst ihn in den Container. Natürlich verläuft die Entwicklung dieser Freundschaft, dieser Geschichte nicht reibungslos und ausgelassen. Natürlich gibt es Konflikte, Enttäuschungen, Vorwürfe. Aber in Anbetracht der Extremsituation, in der sich die beiden befinden, hat all dies nichts Tragisches, nichts aussergewöhnlich Beunruhigendes. Und welche Beziehung verläuft denn schon «reibungslos»? Und doch gipfelt diese in einem Moment absoluter Tragödie. Und unmittelbar steht die Frage im Raum: Wer von beiden war der Täter?

Vielleicht liefert das Lied, das sogleich eingespielt wird, eine Antwort? «Don’t stop me now». Die hohen Töne von Queen ergiessen sich über den Menschen, der da im Abfallsack liegt.

Die Hoffnung stirbt zuerst

Der Ausgang ist von vornherein klar. Das Ende ist bekannt. Und dennoch erwartet man es bis zum Schluss nicht. Weil soweit werden sie ja dann doch nicht gehen, die beiden. So naiv wird Max wohl doch nicht sein. Und Jan wird es gar nicht tatsächlich wollen, vermutlich steht er doch einfach nur auf Plastik. Es bleibt ein Spiel. So hofft man. Was in diesem Stück aber noch vor Jan stirbt, ist die Hoffnung. Umso mehr, als die Geschichte noch nicht einmal erfunden ist. Sie ist passiert. In einem Hamburger Pflegeheim fand man im Februar 2001 an einem kalten Freitagmorgen die Leiche eines jungen Bewohners im Abfallcontainer. Der 27-jährige Muskelkranke war eingepackt in Abfallsäcke, sein Mund war zugeklebt. Noch am selben Morgen holte die Kripo den 20-jährigen Zivildienstleistenden ab, der das Opfer betreut hatte. Dieser erzählte vom «Spiel», das der Kranke hatte spielen wollen. Über die Begegnung dieser beiden jungen Männer und die Entwicklungen, die zu dieser Tat führten, schrieb Heiko Buhr ein Hörspiel mit dem Titel «Abfall», das nun im Kellertheater Winterthur als Bühnenstück uraufgeführt wurde. Es zeigt die Realität in ihrer ganzen Rohheit. Und die wiegt schwer.

Die unaufgeregte Inszenierung im Kellertheater wirkt sehr dokumentarisch. Nur hin und wieder werden mithilfe von Ton- und Licht-Spielen traumhafte Sequenzen eingebaut. Dieses Dokumentarische ist sehr stimmig. Doch lässt es einen manchmal vergessen, dass die Dialoge nur erfunden sein können. Basierend auf Erzählungen von einem der beiden Involvierten, aber insgesamt erfunden. Dass die Geschichte an sich wahr, ihre Rekonstruktion aber fiktiv ist, macht die Frage, die am Schluss über allem schwebt, vollends unbeantwortbar. Und umso dringlicher. «Abfall» bringt auf den Punkt, was nicht in Worte zu fassen ist. Und dies gilt weit über diese eine Geschichte hinaus.

Am Dienstag, 13.3. spricht Barbara B. Peter (DRS2) mit Fachleuten und der Regisseurin über das Stück «Abfall», sowie über die Unversehrtheit und was das Leben lebenswert macht. Im Kellertheater Winterthur um 20.30 Uhr.

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