Rousseau und die Freidenker

kulturkritik.ch - Bildmaterial zur Verfügung gestellt

Die Veranstaltung

Was: 300 Jahre Rousseau - eine kritische Würdigung
Wo: Zentrum Karl der Grosse, 8001 Zürich
Wann: 16.09.2012
Bereich: Literatur

Der Autor

Tilman Hoffer: Jahrgang 1988. Studierte Soziologie, Philosophie und Literarurwissenschaft an der Universität Zürich, gegenwärtig Geschichte und Philosophie des Wissens an der ETH. Ist literarisch tätig.

Die Kritik

Lektorat: Elena Ibello.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: FreidenkerInnen Zürich (siehe Unabhängigkeit).

Von Tilman Hoffer, 22.9.2012

Der Tag des Herrn, und außerdem noch der dritte Sonntag im September, folglich der eidgenössische Dank-, Buss- und Bettag: Der radikal-atheistische Freidenker-Verband beweist gutes Timing mit seiner Tagung zu Jean-Jacques Rousseau, dem grossen Denker der Aufklärung und der Religionskritik. Einen ganzen Tag lang soll aus Anlass seines 300sten Geburtsjubiläums in Vorträgen, szenischen Lesungen und Diskussionen das Werk des Verfassers von «Emile» und «Du Contrat Social» reflektiert werden. Was trifft man hier wohl für ein Publikum? Viele der Anwesenden sind schon würdig ergraut, doch es gibt auch weniger alte und auch einige wirklich junge. Drei Generationen von eingefleischten Atheisten sind der Einladung gefolgt, sodass man sich die Frage stellt, wie gross eigentlich die Schnittmenge dessen ist, was sie sich jeweils unter Freiheit, Selbstbestimmung und Aufklärung vorstellen. Rousseaus Hauptwerke erschienen immerhin schon vor 250 Jahren, zu ihm kann sich heute eigentlich jeder bekennen. Auffällig ist zunächst nur, dass man so viele karierte Hemden wie sonst nur in der Mensa der ETH sieht. Der Frauenanteil liegt optimistisch geschätzt bei zwanzig Prozent. Die Kongresshalle im Zentrum Karl der Grosse erfüllt alle Anforderungen, aber sie bleibt eben eine Kongresshalle. Helfer laufen in T-Shirts der Freidenker herum und betreiben einen Bücherstand. Nun hatte man freilich vom «Denkfest», so schon der offizielle Titel, keine rauschende Orgie erwartet, und das alles wirkt auf seine Art durchaus sympathisch; aber man wird an die etwas traurige Gewissheit erinnert, dass es der Vernunft ganz einfach an Sex-Appeal mangelt, und dass das ein strukturelles Problem zu sein scheint.

Rousseau und das Böse

Den spannendsten Beitrag lieferte sicherlich der Philosophieprofessor Urs Marti mit seinem Vortrag über Rousseaus Sicht auf das Böse. Für Rousseau, der den berühmten Begriff des «guten Wilden», des «bon sauvage» prägte, ist das Böse im Menschen eine Folge seiner Vergesellschaftung. Es macht keinen Sinn, über den Naturmenschen in den Begriffen von Gut und Böse zu sprechen. Die Natur ist das Indifferente und Gegebene, Moral ist nur in der Zivilisation denkbar. Während der Naturmensch jedoch einem gesunden Selbsterhaltungstrieb folgt, so Rousseau, und deshalb seine Bedürfnisse befriedigt, erzeugt die Zivilisation künstliche Bedürfnisse, und schon ist das Ausmass an Schaden und Verwirrung beträchtlich. Eine verhängnisvolle Eigenliebe ergreift den Menschen, genährt durch Neid, Missgunst, Gehässigkeit, Herrschsucht und fremdbestimmte Ressentiments, kurz: ausnahmslos Gefühle, die aus seiner (antagonistischen) Beziehung zu anderen entstehen. Hierin liegt das Böse, und im Grunde liegt hier auch schon die Wurzel für Rousseaus Gesellschaftsvorstellungen, die letztlich darauf hinauslaufen, die Menschen möglichst auf Distanz voneinander zu halten, um das Schlimmste zu verhindern. Je weniger Institutionen, die den Menschen gegen seinen Willen an andere Menschen binden, desto besser. Ist Rousseau ein Philosoph für Autisten? Natürlich nicht, doch im Vortrag von Urs Marti klang es manchmal witzigerweise so. Allerdings sind diese Themen in Zeiten der zunehmenden Vernetzung, aber auch der schwächer werdenden traditionellen Bindungen aktueller denn je. Selbst wenn die Antworten komplexer sind.

Vom Nutzen und Nachteil szenischer Lesungen

Szenische Lesungen, zumal von philosophischen Texten wie dem «Gesellschaftsvertrag», sind immer schwierig (der Disput mit David Hume, ebenfalls aufgeführt, war griffiger und insofern einfacher). Die ursprüngliche Idee dahinter muss gewesen sein, dass man den Gedanken beim Wachsen zuschauen kann, dass sie sich scheinbar aus der Rede entwickeln, dass die Evidenzen sich scheinbar von selbst anstellen; kurz, dass man sich der grossen Aufgabe stellt, das Erlebnis des Denkens nachzuzeichnen. Man muss sagen, dass dies den Schauspielern überraschend gut gelang. Meistens schafften sie es, der Theorie den leicht schwärmerischen, fast naiven Enthusiasmus mitzugeben, der die Epoche der Aufklärung eben auch ausmachte. Diesen heute kaum mehr nachfühlbaren intellektuellen Optimismus tatsächlich halb-dramatisch auszuspielen, ist bei näherer Betrachtung sogar ziemlich mutig (es fallen einem unwillkürlich Filmdarstellungen von Danton oder Robespierre ein, ganz ohne Hintergedanken). Der Vollständigkeit halber: Lesungen von politischer Philosophie misslingen genau dann, wenn sie sich wie ein Volkshochschulkurs in Staatsbürgerkunde anhören. Schlimm waren in diesem Sinne die Einspielungen vom Band, in denen die Grundgedanken der Demokratie und der liberalen Gesellschaft nochmal in einfachen Aussagesätzen zusammengefasst wurden. Zum Glück musste man nicht mitsprechen.

Schweizer Zeitgeist

Es ist eine Binsenweisheit, dass man den Zeitgeist daran ablesen kann, wie über grosse Geister der Vergangenheit gesprochen wird. Urs Marti wurde in seinem zweiten, kürzeren Vortrag nicht müde zu betonen (im Übrigen vollkommen wahrheitsgemäss), dass Rousseau beim besten Willen kein Proto-Sozialist und kein Kommunitarist war; es ging ihm um Freiheit und Rechtsgleichheit, ausdrücklich nicht um den Vorrang der Gemeinschaft vor dem Individuum oder gar die staatliche Umverteilung von Gütern. Nicht zu vergessen sein nachdrückliches Beharren auf dem Schutz des Privateigentums. In der Lesung hatte man schon erfahren: «Der Mittelstand ist der gesündeste Teil der Republik.» Gut, dass man das noch einmal geklärt hat. Rousseau ist für den Schweizer Liberalismus gerettet. Aufatmen. Vielleicht war es auch kein Zufall, wenn Marti an anderer Stelle auf Hobbes, Spinoza und Locke verwies, der Blick auf die Wirkungsgeschichte sich aber auf Nietzsche beschränkte – während ein moderner Vertragstheoretiker wie John Rawls, der durchaus einen weiteren Begriff von Gerechtigkeit entwickelte, lieber unerwähnt blieb.

Bekenntnisse

Bei der Podiumsdiskussion zum Thema «Welcher Gesellschaftsvertrag für die Schweiz von heute?», an der Vertreter von vier grossen Parteien teilnahmen, kam dann zunächst eine Überraschung: Man spricht tatsächlich über Rousseau, zumindest am Anfang. Alle hatten sich nachweislich eingelesen. Vermutlich muss man, wie der Autor dieser Zeilen, aus einem Land kommen, in dem die populärste politische Talkshow von Günter Jauch moderiert wird, um so etwas wertschätzen zu können. Man war sich schnell einig, dass die Volksabstimmungen eine gute Sache sind, das hätte Rousseau sicher auch so gesehen. Schliesslich landete man aber natürlich doch bei den Niederungen der Tagespolitik. Jaqueline Badran (Nationalrätin, SP) war dabei argumentativ mit Abstand die Beste und haute Claudio Zanetti (SVP) mehrmals nach allen Regeln der Kunst in die Pfanne (dafür muss sie dringend an ihrem impression management arbeiten; manchmal wirkt sie so zänkisch und verbissen, dass man ein bisschen Angst bekommt). Zanetti: Das grosse Ganze im Blick behalten, sich nicht in Details verlieren, wenn es um Volksabstimmungen geht. Badran: Ach, und Minarette sind das grosse Ganze? Treffer. Zanetti: Der Staat darf die Freiheit des Einzelnen nicht beschneiden. Badran: Warum die SVP dann so vehement für das Marihuana-Verbot sei? Treffer, versenkt. Man möchte nicht ihr Sohn sein. Schliesslich Ovationen aus dem Saal, als Zanetti die totale Trennung von Kirche und Staat fordert. Dass es die im Grunde schon gibt, musste nicht mehr diskutiert werden; nun war klar, was hier eigentlich das einigende Band war. Im Übrigen wolle man auch keine saudi-arabischen Hassprediger in der Schweiz. Links? Rechts? Antiklerikal, das ist doch auch was. Nun kam Bewegung in die Sache, die sich jedoch schnell wieder verlief, als offensichtlich wurde, dass man beim kleinsten gemeinsamen Nenner angelangt war. Es war auch kein Hassprediger im Raum, und so kehrte gegen Ende wieder Ruhe ein.

Zum Schluss eine gute Nachricht für alle Philosophie-Interessierten, denen diese Ausflüge in die Tagespolitik schon zu viel sind: Rousseau sah es im Grunde genauso. In seinem Leben stets ein Einzelgänger, konnte ihn auch alles Theoretisieren über Fragen der Verfassung und der Staatsformen nicht von der Überzeugung abbringen, dass es für das Denken letztlich nur eine Heimat geben kann: «Der Philosoph ist nicht Vater, nicht Bürger, nicht Mensch. Er ist Philosoph.»

Weiterlesen: