Eine Generation sieht rot

Die Veranstaltung
Was: Motus: Alexis. Una tragedia greca
Wo: Theater Spektakel, Nord
Wann: 27.08.2011 bis 29.08.2011
Bereich: Theater
Die Autorin
Fabienne Schmuki: Jahrgang 1983. Absolventin des Masterstudiengangs Kulturvermittlung, «publizieren & vermitteln» an der ZHdK. Co-Geschäftsführung eines Schweizer Independent Musikvertriebs; Promotion & Kommunikation. Freelancerin für diverse Print-/Onlinemedien.
Die Kritik
Lektorat: Lukas Meyer.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: Zürcher Theater Spektakel (siehe Unabhängigkeit).
Von Fabienne Schmuki, 28.8.2011
Griechische Tragödien gipfeln gemäss ihrer klassischen Form immer im Konflikt. Dieser ist mit dem inneren und äusseren Zusammenbruch einer Person gleichzusetzen. Der Protagonist der Geschichte befindet sich in einer ausweglosen Situation, so dass er sich, welchen Weg er wählen mag, so oder so schuldig macht.
Zwei griechische Tragödien
Alexis Grigoropoulos war 15 Jahre alt, als ihn die Polizei 2008 auf der Strasse mit einem Schuss in die Brust niederstreckte. Die griechische Tragödie löste eine Welle von Demonstrationen und Unruhen in ganz Griechenland und bis weit über die Landesgrenzen, sogar bis in andere Kontinente, aus. Alexis Mutter sagte später, ihr Sohn sei zweimal gestorben: Einmal, als die Polizei ihn erschoss, und einmal, als sie ihn auf der Strasse liegen liess, «wie eine tote Maus».
Antigone entsprang einer inzestuösen Ehe. Sie will in Theben den Zweikampf ihrer Brüder verhindern, was ihr nicht gelingt: Die beiden töten sich gegenseitig. Als der König von Theben, Kreon, Antigones Bruder Polyneikes nicht bestatten will, setzt sich Antigone für ihn ein, was eine Verurteilung zur Todesstrafe zur Folge hat. Die griechische Tragödie endet mit Antigones Freitod.
Zwei Geschichten, die auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam haben. Und doch wagt sich die italienische Theatergruppe Motus daran, sie zu verweben und kontextualisieren. Das Resultat ist eine Mischung aus hörbar gemachten Denkprozessen, Dokumentarfilm, Theater und Performance von maximaler Intensität und Kraft.
Künstler und Käfer
Während Motus 2008 an ihrem Bühnenstück Antigone proben, wird Alexis in der griechischen Stadt Exarchia ermordet. Kurzerhand reist das Team nach Griechenland, die Kamera im Handgepäck. Sie filmen und fotografieren alles Mögliche: Graffittis, Tags, Schauplätze, Flyer und Plakate, Interviews. «Wer ist Antigone heute?» fragen sie ihre Gesprächspartner. «Immer, wenn ich Antigone höre, muss ich an Anarchie denken», sagt Schauspielerin Silvia Calderoni einmal. Und an Alexis. Silvia trägt rote Hosen, und manchmal einen roten Helm, der Boden auf dem sich das Quartett Motus bewegt ist rot und das Klebband, das sie spannen, auch. Eine Generation sieht rot? Geht es um Anarchie? Geschieht hier eine Revolution?
Revolution oder Revolte, so lautet eine der Fragen, die die Gruppe aufwirft. Es ist bei weitem nicht die einzige. Natürlich weiss auch Motus keine Antwort darauf, wie man die Welt verändern kann. Aber auf der Suche nach Antworten finden sie ansatzweise Erklärungen in der Kunst, so rezitiert Silvia: «Künstler sind wie Käfer: Sie nehmen den ganzen Dreck der Welt und manchmal entsteht daraus etwas sehr Schönes».
Dokumentarisches aus der Hölle
Auf Brechts Antigone-Szenen folgen Dialoge über Alexis’ Tragödie, die Reaktionen, die Griechen, die Generationen. Die Übergänge sind hart, doch Sanftheit wäre bei der Thematik fehl am Platz. Es könnte überall auf der Welt geschehen, was in Griechenland geschieht, sagen Motus, und als kämen sie aus der Zukunft, zeigen sie uns am Ende Bilder von Zeitungsberichten, YouTube-Videos und Fotos von Israel, Libyen, Ägypten, Chile und weiteren Schauplätzen, die brodeln wie kochendes Wasser und brennen wie das Höllenfeuer.
Dass Motus keine Antworten bereithalten, ist gut. Die Stärke von «Alexis. Una tragedia greca» liegt in der Auseinandersetzung mit den Themen, in der Verflechtung von Sage und Realität, in der Flexibilität der Gruppe und ihren klugen Fragen, welche zu stellen sie sich nicht scheuen. Motus zeigen nicht den inneren und äusseren Zusammenbruch einer Hauptperson. Auch nicht von mehreren Personen. Sondern von ganzen Gesellschaften.