Geheimnisvolle Bescheidenheit

Die Veranstaltung
Was: Lotte van den Berg & OMSK: Les spectateurs
Wo: Theater Spektakel, Aktionshalle
Wann: 27.08.2011 bis 30.08.2011
Bereiche: Performance, Theater, Theater Spektakel 2011
Die Autorin
Elena Ibello: 1982 geboren, seit 2003 freie Journalistin. Im Master-Studium Art Education, publizieren&vermitteln, an der ZHdK.
Die Kritik
Lektorat: Gabriele Spiller.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: Zürcher Theater Spektakel (siehe Unabhängigkeit).
Von Elena Ibello, 28.8.2011
Man muss sehr gut zuschauen und aufmerksam zuhören, will man etwas erkennen, in der Performance von Lotte van den Berg und der Gruppe OMSK. In «Les Spectateurs» geht es genau darum: Sehen, schauen, beobachten, anschauen, zuschauen. Es geht um die Frage, wer wir sind, zusammen mit anderen, und wer, wenn wir für uns allein sind. Wie wir – gerade im Theater – alle eine gemeinsame Erfahrung machen und doch jede Person ein eigenes Erlebnis hat.
Der Beginn der Vorstellung ist schleppend. Es gilt, eine lange Leere auszuhalten. Eine Leinwand wird mit einem Scheinwerfer erhellt, ein Mann stellt sich an das hintere Ende der Bühne und starrt geradeaus Richtung Publikum. Dieses räuspert, hustet, kichert, scharrt, seufzt. Eine Frau stellt sich irgendwann auf die Treppe der Zuschauertribüne und beginnt zu singen. Ein scheinbar religiöser Gesang, gleichmässig und schwerfällig. Wieder Seufzer im Publikum, wieder passiert lange nichts.
Endlich Emotionen
Irgendwann erscheint ein anderer Mann mit einem Berg Plastik in den Händen und beginnt, den Plastik auf der Bühne aufzuhäufen. Dort geht ein Wind, der Plastikhaufen zuckt unruhig. Der Mann hebt ein Stück nach dem anderen ganz langsam auf und streckt es in den Luftstrom. Jedes Mal, wenn er einen Plastikfetzen loslässt, wird der Gesang schneller, inbrünstiger und melodiöser. Und plötzlich haben die Fetzen die Form von menschlichen Körpern. Zahllose Menschenhüllen in weiss, schwarz und grün schweben auf einmal durch die Lüfte. Der Mann rennt im Kreis, hebt die auf, die herunter gefallen sind und streckt sie wieder in den Wind. Der Gesang wird nun immer lauter und vermischt sich mit anderen Gesängen und Ausrufen, die eingespielt werden. Das Bild, das sich den Zuschauern bietet, ist ein Schönes und Leichtes. Nur der Gesang legt eine konturlose Schwere darüber.
Mitten in dieses Wirrwarr hinein stellt sich eine Frau. Die Plastikhüllen bleiben an ihr hängen. Der Mann rennt weiter im Kreis um sie herum und wirft die Hüllen zurück in den Luftstrom. So geht das eine halbe Stunde. Man schaut zum ersten Mal auf die Uhr. Als die Musik aufhört und die Winde sich legen, rennt der Mann weiter im Kreis. Und weiter und weiter. Es könnte einem schwindlig werden beim Anblick. Die Frau befreit sich vom Plastik und beginnt, einen Vortrag in einer kryptischen Sprache zu halten. Zum ersten Mal an diesem Abend sind Emotionen zu erkennen. In feuriger Erregung schimpft, ruft, schreit, stöhnt und wimmert die Frau ihren rätselhaften Text.
Der Betrachter wird zum Gegenstand der Betrachtung
Dann geht alles wieder sehr langsam vor sich. Man stellt in aller Ruhe einen grossen Tisch auf der Bühne auf, bedeckt ihn mit lauter Gläsern und beginnt, Wein, Wasser und Saft einzuschenken. Die Frau, die den Kauderwelsch-Vortrag gehalten hatte, richtet sich noch einmal ans Publikum – und spricht Schweizerdeutsch mit sympathischem Akzent: «Mir würded gern öpis mit eu trinke.» Nachdem schon mehrere Personen die Vorstellung verlassen haben, ergreifen auch andere die Gelegenheit und suchen das Weite. Viele bleiben jedoch und bedienen sich am grossen Tisch. Die Sängerin wiederholt mitten im Publikum ihren exotischen Gesang. Der Mann, der fast die ganze Vorstellung über am hinteren Bühnenrand gestanden hatte, schreitet durch die schweigende Menge, setzt sich auf die Zuschauertribüne und betrachtet das Publikum, das sich nun auf der Bühne befindet. Das Licht geht aus.
Lotte van den Bergs Stoff wird mit «Les Spectateurs» auf anschauliche und wirkungsvolle Weise umgesetzt. Doch die vollkommene Abwesenheit von sinnhaftem verbalem Ausdruck würde immerhin nach mehr oder weniger expressiver Mimik und Körpersprache verlangen. Doch die bleibt – abgesehen vom kurzen Vortrag – fast gänzlich aus. Nicht einmal, als der eine Mann die verstreuten Hüllen einsammelt und eine um die andere ganz langsam ausgestreckt auf den Boden legt, ist zu erkennen, mit welcher Stimmung er diese behutsame Handlung vornimmt. Das Herstellen der Zusammenhänge dem Publikum zu überlassen, ist hier sicher angebracht, doch wird leider insgesamt wenig mehr als eine Hülle geliefert, die zu deuten einigermassen aussichtslos ist. Dass die gesamte Performance in der Umkehrung der Beobachterposition abschliesst, mag zwar eine Auflösung liefern, doch wirkt diese nach der eher geheimnisvollen Inszenierung ziemlich plump.