Kulturberichterstattung zweiter Ordnung

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KulturMedienWandel

KulturMedienWandel ist eine gemeinsame Rubrik der Plattform Kulturpublizistik und von Migros-Kulturprozent Online. In dieser Rubrik werden Phänomene und Entwicklungen im Schnittfeld von Kultur und Medien aufgegriffen, reflektiert und kommentiert.

Der Autor

Ruedi Widmer: Geboren 1959, Journalist und Publizist, Kultur- und Medienwissenschaftler, Leiter des MA publizieren & vermitteln und Verantwortlicher der Plattform Kulturpublizistik der ZHdK.

Von Ruedi Widmer, 19.12.2011

Wie funktioniert die Bündelung kulturjournalistischer Angebote auf dem Netz? Die Beispiele der Pioniere «Perlentaucher» und «Artsjournal» zeigen: Hinter der kleinen feinen Presseschau lauert die alles fressende Suchmaschine.

Kulturveranstalter haben heute Mühe, öffentlich wahrgenommen zu werden. Ein Grund dafür ist: Auch Medien, die über Kultur berichten, haben heute Mühe, öffentlich wahrgenommen zu werden. Solchen Medien ist gemeinsam, dass sie auswählen müssen, und dass sie als einzelne wahrgenommen werden wollen. Der Bedarf der Bündelung und das Bedürfnis nach Übersicht kommt so zu kurz. Im deutschsprachigen Kulturjournalismus leistet ihn nur ein Anbieter: Der Perlentaucher.

Die Feuilleton-Rundschau

«Wir haben die Feuilleton-Rundschau erfunden, indem wir jeden Morgen um 9 Uhr sagten, was in der Zeitung steht.» So fasst Thierry Chervel, der 1999 Mitgründer war, im Berliner Redaktionsbüro zusammen, was perlentaucher.de bis heute leistet: Berichterstattung über die Kulturberichterstattung. Ein Kernteil des Angebotes ist die seit rund zehn Jahren beinahe lückenlosen Übersicht über die Feuilleton-Buchbesprechungen in den überregionalen Feuilletons. Was erstens erklären hilft, warum reputierte Buchverlage auf Perlentaucher werben. Und zweitens, warum die Frage, was ein gesetzeskonformes veröffentlichtes Resümee einer Rezension ist, seit sechs Jahren zwischen dem Perlentaucher und zwei überregionalen Tageszeitungen vor dem Richter ausgefochten wird. Weitere Anzeichen der Wahrnehmung und des Erfolges sind: zwei Grimme-Preise und monatlich 310’000 unique clients.
Ähnliche Kennzahlen weist artsjournal.com auf, eine Website, die auf den ersten Blick wie ein Zwilling von Perlentaucher daherkommt: Gegründet im gleichen Jahr und nach aussen repräsentiert von einer prägenden Figur mit Printvergangenheit (Doug McLennan), sichtet das im Nordwesten der USA beheimatete Artsjournal mit bestenfalls einer Handvoll bezahlter Stellen regelmässig die Kulturteile von rund 200 Medien. Der wichtigste Unterschied nebst der sprachbedingten Reichweite: McLennan bindet Nutzer und steigert Werbeeinnahmen dadurch, dass er eine Anzahl Blog-Schreiber auf seiner Website versammelt, die in ihren Szenen gut vernetzt sind.

Das Problem der Grösse

Das Internet hat dem Perlentaucher und Artsjournal nicht nur neue Räume geöffnet, es setzt ihnen in Sachen Finanzierbarkeit auch harte Grenzen. Thierry Chervel: «Die Existenz ist immer prekär, das kann man nicht anders sagen.» Doug McLennan, wenn auch in der Tonart trotziger, spricht von der gleichen Problematik: «Historisch trifft es zu, dass, wenn Sie ein Publikum für Ihren Inhalt generieren konnten, dieser Inhalt auch finanzierbar war. Ich weigere mich zu glauben, dass die Gesetze der menschlichen Natur wegen des Internet nicht mehr gelten sollen.»
Was McLennan wohl sieht, aber so nicht sagen mag: Im Internet kommen die «Gesetze der menschlichen Natur» einfach anders zur Geltung als im klassischen System des Konsums von Kultur und Kulturmedien. Perlentaucher und Artsjournal sind unschlagbar als Onlinemedien zweiter Ordnung mit einer redaktionellen Leistung, die auf wenigen lesenden und denkenden Köpfen beruht. Als Geschäftsmodelle haben sie das gleiche Problem wie die an den Rand gedrängten Kulturveranstalter und Printmedien: Sie wollen als einzelne Angebote wahrgenommen werden. Die wirklich erfolgreichen Online-Anbieter hingegen bündeln Kulturinhalte im wirklich grossen Stil. So beispielsweise I Tunes und Amazon, bei denen der Marktplatz der kulturellen Meinungen und der Marktplatz der Kulturproduktion untrennbar verknüpft ist.
Fazit: Der kleine Perlentaucher sieht sich zunehmend mit grossen Marktplätzen der Kultur und der kulturellen Öffentlichkeit konfrontiert. Angesichts der strategischen Ziele von Google, das demnächst auch einen «Ebookstore» einrichten, Musik verkaufen und Nachrichtendienste in sein Angebot einbinden will, sind offenbar auch I-Tunes und Amazon noch nicht gross genug gedacht. Der Taucher ist hier, um im Bild zu bleiben, eine alles schluckenden Tauchmaschine. Von daher betrachtet ist die Online Presseschau des Thierry Chervel, gleich wie ein Literaturverlag oder das Feuilleton einer überregionalen Qualitätszeitung, bestenfalls eine Perle im Ozean, in welcher der kommende Kulturberichterstatter Google fischt.

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