Eine Frage der Schuld?

kulturkritik.ch - Bildmaterial zur Verfügung gestellt

Die Veranstaltung

Was: Gabriel Vetter: Menschsein ist heilbar
Wo: Hochhaus, Limmatplatz
Wann: 09.09.2011 bis 10.09.2011
Bereich: Literatur

Die Autorin

Nadine Burri: Jahrgang 1981, studierte Germanistik und schreibt an einer Dissertation zu alter Geschichte und Literatur, Redaktionsmitglied des Elfenbeintürmers (Historikermagazin der Universität Zürich)

Die Kritik

Lektorat: Gabriele Spiller.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: Im Hochhaus (siehe Unabhängigkeit).

Von Nadine Burri, 11.9.2011

«Am Anfang ist’s ein bisschen holprig – das muss so sein.» Ob aller Anfang tatsächlich schwer sein muss, darüber lässt sich streiten. Doch dass Gabriel Vetter seinen holprigen Start thematisiert, nimmt den Kritikern (fast) den Wind aus den Segeln. Mit viel Charme stellt der mehrfache Poetry-Slam-Champion vom ersten Augenblick an eine Verbindung zum Publikum her, die er nicht mehr verliert.

«S’Grosi versärblets»

Der Leitfaden von Vetters Solo-Programm ist sein Grosi, das er auch gleich mehrere Bühnen-Tode sterben lässt. Die alte Dame mit dem trockenen schwarzen Humor ist der Ausgangspunkt seiner vielfältigen Darbietungen. Sie ermöglicht es ihm, die unterschiedlichsten Themen aufzugreifen, ohne den roten Faden ganz zu verlieren. Er referiert über typisch bürgerliche und typisch schweizerische Diskussionspunkte, philosophiert über sein Bücherregal und weshalb er selbst keine Bücher schreibt, oder singt lautstark über den Klassenclown aus früheren Tagen. Die unterschiedlichen Intonationen und Tempi, sowie die Wortakrobatik ziehen den Zuhörer in Bann. Doch sein Programm ist mehr als Slam Poetry. Er springt hin und her zwischen Literaturvorlesung, Politsatire und poetischen Oden. In seinen Texten fühlt sich der St. Galler sicherer als im freien Umgang mit dem Publikum. Er überrascht mit unerwarteten Wortspielen und überraschenden Fragen, immer illustriert mit kreativen Fallbeispielen.  Die Lacher sind ihm «Im Hochhaus», der Kleinkunstbühne des Migros-Kulturprozent,  von Anfang an garantiert.

Ein schwarzes Ende

Je weiter fortgeschritten die Vorstellung ist, desto mehr gewinnt sie an Qualität, gewinnt Gabriel Vetter an Selbstbewusstsein und Schwung. Das Tempo erhöht sich, wenn er über den «mentalen Apartheids-Äquator» zwischen den Migros- und Coop-Kindern spricht und immer neue, treffende Beobachtungen zum menschlichen Alltag anstellt. Doch nicht nur seine Fragen sind unerwartet, ebenso das selbstreferenzielle Ende. Gabriel Vetter wird immer zynischer und tief schwarz in der Themenwahl.  Die Vorstellung gipfelt in philosophischen Fragen, die hart an der Grenze zum guten Ton sind – oder sogar ein bisschen drüber. Mit dieser Gratwanderung spielt der Künstler während des ganzen Programms, zu Beginn nur subtil. Zum Schluss jedoch treibt er es auf die Spitze und lässt den Zuschauer peinlich berührt in den Rängen sitzen. Gabriel Vetter schockiert, stellt unangenehme Fragen: Soll man nun weinen oder lachen? Wer ist Schuld? Ist Menschsein heilbar? Und trotz aller Ernsthaftigkeit seiner abschliessenden Fragen schafft er es, den Zuhörer mit einem guten Gefühl und einem Lachen aus dem Saal zu entlassen.

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