Still und steril

Die Veranstaltung
Was: Compagnie Monsieur et Madame O: Les Vieux Os
Wo: Hochhaus, Limmatplatz
Wann: 09.12.2011 bis 10.12.2011
Bereich: Theater
Die Autorin
Stephanie Rebonati: 1989. BA in Journalismus und Organisationskommunikation (IAM), aktuell MA of Arts in Art Education publizieren & vermitteln (ZHdK), als freie Journalistin für verschiedene Medien tätig.
Die Kritik
Lektorat: Lukas Meyer.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: Im Hochhaus (siehe Unabhängigkeit).
Von Stephanie Rebonati, 12.12.2011
Das ganze Theater, die ganzen fünfundsechzig Minuten, spielen sich in Zimmer 508 ab. Zimmer 508 befindet sich in einem französischen Altersheim, wo alles ziemlich still und steril ist. Das Stück mit dem Titel «Les Vieux Os» beginnt so: Ein Raumpfleger betritt die Bühne beziehungsweise Zimmer 508 und räumt es inakkurat auf – Dreck wird unters Bett gefegt und die Habseligkeiten des verstorbenen Bewohners werden kurzerhand in den Mülleimer geworfen. Dann betritt eine hypernervös-Kaugummi-kauende Krankenschwester den Raum, um ein paar Tabletten in einen Becher zu knallen.
Theater ohne Worte
Nach dieser Szene denkt sich der Zuschauer: Mann, ein Altersheim ist ja krass asozial. Und dann blickt er um sich: das restliche Publikum ist im Altersheim-Alter angekommen. Das rund fünfzigköpfige Publikum muss zwischen sechzig und achtzig Jahre alt sein. Warum tun die sich das nur an? Die schauen ja unmittelbar in ihre Zukunft! Ein frecher Gedanke entspringt: Vielleicht gab es im Altersheim Freikarten, oder waren die Leute derart angetan vom Untertitel des Theaters «tragicomédie visuelle sans parole»?
Dann endlich betritt der neue Bewohner von Zimmer 508 die Bühne. Ein alter Herr mit Béret, Cordhosen und Lederkoffer. Und einem verängstigten Blick. Die Krankenschwester ist unerträglich grob, reisst ihm die Kleider vom Leib und kleidet ihn in das blaue Altersheimoutfit – auf dem Rücken seine Zimmernummer 508 wie im Knast. Nachdem der Monsieur in seinem neuen Zuhause allein gelassen wird, kreischt jemand «Bonjooooouuur!» (obwohl es laut Medienmitteilung und Flyer ein Theater ohne Worte ist). Es ist eine entzückende Greisin, die frischfröhlich und kreischend Zimmer 508 betritt. Der Herr in Blau erschrickt. Sie möchte Kontakt, er stösst sie grob weg, bis sie nicht mehr kommt, die Altersheimbewohnerin von Zimmer 673 – die Nummer auf ihrem blauen Kleid verrät es.
Ein Dutt, ein Stock, ein Striptease
Der Sommer vergeht (man erkennt diesen an Liegestuhl und Sonnenschirm), Weihnachten kommt (man erkennt das Fest an der Klausenmütze des alten Mannes) und der Sommer kommt wieder (man erkennt diesen an der französischen Nationalflagge, die am 14. Juli gehisst wird). Und dann kommt sie wieder, die hübsche Greisin mit Dutt und Stock und ganz in Schwarz gekleidet. Sie trauert, nur weiss der Zuschauer nicht warum. Der alte Monsieur von Zimmer 508 ist plötzlich ganz angetan von seinem einstigen Störfaktor, nur weiss der Zuschauer nicht warum.
Und dann beginnt die Liebesgeschichte der beiden Altersheimbewohner. Sie tanzen und rauchen und saufen und sie macht einen Striptease und steht plötzlich in einem knappen Leo-Print-Body auf dem Bett und er wippt mit seinem Gehstock zur poppigen Musik und alles ist plötzlich voller Leben. Aber so richtig lustig wird das Ganze nie während den fünfundsechzig Minuten Spielzeit. Es wird gar noch schrecklich trist: Filmaufnahmen aus den Fünfzigern und Sechzigern werden auf eine Bühnenwand projiziert, untermalt von sanften Pianoklängen. Ein wunderbares Stilmittel, das schönste Element von «Les Vieux Os» überhaupt. Aber eben schrecklich traurig.
Wo gehen sie hin?
Gespielt werden die alte Dame und der betagte Herr von den jungen Schauspielern Françoise Purnode und Laurent Clairet. Letzterer ist auch für die Gestaltung des Bühnenbildes verantwortlich und spielt zu Beginn den Raumpfleger. Purnode und Clairet überzeugen gleichermassen durch Körperbeherrschung und Authentizität. Sie bewegen sich wie Alte, sie atmen und sie blicken so. Am Schluss sterben sie beide. Er zuerst, dann sie. Es ist keine Überraschung. Aus dem Altersheim führt nur dieser Weg, der Weg ins Jenseits. Und für die Zuschauer führt der Weg raus in das dunkle Zürich an den Limmatplatz, wo sich die Jungen verabreden, um sich ins Nachtleben zu stürzen. Die Alten, die warten an der Tramstation und man fragt sich im Stillen, wo sie wohl hingehen?