Körperkontakt zwischen Kontinenten
Die Veranstaltung
Was: Andreas Liebmann: Gefühlstraining für weltweite Körper
Wo: Theaterhaus Gessnerallee
Wann: 23.01.2011 bis 24.01.2011
Bereich: Performance
Die Autorin
Sophie Caflisch: Jahrgang 1983, Studium Phil. I, Assistentin an der Universität Zürich, davor Praktikantin am Fabriktheater Rote Fabrik und am Stadttheater Solothurn. Journalistisch tätig im Rahmen des Nachwuchs-Opernprojektes «OpernHausen».
Die Kritik
Lektorat: Lukas Meyer.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: Theaterhaus Gessnerallee (siehe Unabhängigkeit).
Von Sophie Caflisch, 25.1.2011
Überdehnt – so habe sich einer gefühlt, dessen Finger Moskau abtasteten und dessen Füsse zugleich auf argentinischen Strassen gingen, während sein Herz mit Pakistan fühlte. Was tun bei einer solchen medialen Überforderung? Was tun, wenn meine Sätze schneller in China ankommen, als ich sie denken kann? Verzweifeln… oder trainieren. Den Körper, dass er vielleicht irgendwann mit der Datengeschwindigkeit mithalten kann. Dafür braucht es nicht viel. Eine Live-Band, die den nötigen Mut einflösst. Bläuliches Licht. Eine kahle Wand mit Notausgangsschild, einen Medizinball, zwei Mattenwagen, einen beweglichen Türrahmen (Bühne: Wolfram Sander). Eine Frau und einen Mann, die trainieren. Und dabei ihre Gedanken preisgeben, sprunghaft, assoziativ, überraschend, manchmal widersprüchlich und verwirrend. Andreas Liebmann (Regie und Konzept) präsentiert eine Reihe von Essays in performativer Kurzform.
Endkörper und die Liebe zur Welt
Auf schwarzen Highheels fragt die Performerin (Beatrice Fleischlin), ob man lernen könne, die ganze Welt zu lieben. Und ob das anwesende Publikum als repräsentative Auswahl der Welt und demnach als potentielle Geliebte gelten könne. Eine Reihe von – „garantiert völlig harmlosen“ – Testumarmungen mit Probanden aus dem Publikum steht am Anfang der Untersuchung. Verlieben passt eigentlich nicht mehr zu unserer Welt. Und diese „kleinteilige“ Liebe schon gar nicht. Frauen sprechen oft über Kinder, andere Leute über Drüsen oder Keller. Irgendwann verliert sich die Zuschauerin und fragt sich, ob das nicht schon vor der virtuellen Überschwemmung des Weltgeschehens so gewesen war.
Der Performer (Martin Clausen), in Karo-Hemd und Goldtrikot, nimmt die Paradoxien der Demokratie ins Visier: Wie kann ich verantworten, dass meinetwegen an der Grenze Leute erschossen werden, ohne dass ich es will? Würde das „Heilige europäische Reich“ untergehen, wenn es nicht so wäre? Körperkontakt ist eine elementare Fähigkeit, um ein soziales Leben zu führen, aber vielleicht muss man das ja mal nicht so eng sehen. Heutzutage sind wir eben „Endkörper“, über Kabel und Wellen verbunden. Wir haben Kuscheln zwischen den Kontinenten, warum denn nicht? Einzig unsere Körper hinken den Kabeln noch leicht hinterher…
Genau deswegen darf das Training auf keinen Fall vernachlässigt werden! Unablässig werden Purzelbäume geschlagen, vorwärts, rückwärts, aufwärts, abwärts. Auch die Multitasking-Fähigkeiten der Zuschauerin werden trainiert. Trotzdem bleibt ihr Zeit, mit zunehmendem Unbehagen festzustellen, dass sich der Worterguss von weiblicher Seite um Kinder, Kirche und Küche dreht, während sich der Mann um Gewehre und Gemeinwesen kümmert.
Salto Mortale
Schon etwas erschöpft vom intellektuellen Salto Mortale des Einstiegs lässt sich das Publikum gerne vom virtuosen Rückwärtssalto in physischer Form auf einer sinnlicheren Ebene ansprechen. Klänge der Sängerin (Jessica Gadani), abwechslungsweise zart und aggressiv, unterlegen den nächsten Essay zu Nähe und Distanz, Angst, Einsamkeit und Leihmutterschaft. So gelingt ein berührender Moment, der in einer Phantasie über den Tod eines geliebten Menschen seine Fortsetzung findet.
Und plötzlich wird auch gelacht und gestaunt. Etwa über eine Blitzabstimmung darüber, ob es sympathisch oder unsympathisch sei, sich zwecks besseren Kontakts mit sich selber am Bauch zu kratzen oder in den Ausschnitt zu greifen. Für die grösste Heiterkeit sorgt ein Diktat, wie man es zuletzt in der Grundschule geübt hat, nur anderen Inhalts. Eine Schrecksekunde beschert uns ein spektakulärer Sprung vom Türrahmen ins gähnende Nichts.
Zwischen Analyse und Poesie
Andreas Liebmann schickt uns auf einen atemberaubenden Parcours, der auf den Ebenen Text, Musik und Bewegung gleichzeitig über die Welt nachdenkt, sich dabei selber überschlägt und oft im Sekundentakt analytisch, poetisch, geschmacklos, beliebig, lustig und rührend ist, und so das Gedankenkarussell des Publikums fast so schnell drehen lässt, als hätte man ein Glasfaserkabel im Gehirn. Ob man den Körper technisch aufrüsten könnte, um der Überdehnung zu begegnen? Liebmann bewahrt uns vor derartigen Vorstellungen und plädiert dafür, die Angst zu überwinden und den Kontakt zu den Menschen in physischer Reichweite zu wagen.