Inspirierende Lismete

Die Veranstaltung

Was: 400asa / Theater im Bahnhof Graz: «Wie fünf Mädchen im Branntwein jämmerlich umkommen»
Wo: Theaterhaus Gessnerallee
Wann: 04.10.2011 bis 15.10.2011
Bereiche: Musik, Theater

Der Autor

Moritz Weber: Jahrgang 1976, studierte Klavier an den Musikhochschulen in Zürich und München sowie Kulturpublizistik an der ZHdK. Er lebt als freischaffender Konzertpianist, Kulturjournalist und Klavierpädagoge in Zürich.

Die Kritik

Lektorat: Fabienne Schmuki.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: Theaterhaus Gessnerallee (siehe Unabhängigkeit).

Von Moritz Weber, 7.10.2011

Wie zwei Stricknadeln erschaffen die beiden freien Theaterensembles «400asa» und «Theater am Bahnhof» gemeinsam eine Lismete aus vielen bunten Fäden. Nach dem Strickmuster eines Musicals mit Elementen wie Liebesduett, gebelteter Ballade und getanzter Ensembleszene wählten sie als roten Faden eine Erzählung von Jeremias Gotthelf. «Wie fünf Mädchen im Branntwein jämmerlich umkommen» thematisiert das Schicksal von fünf alkoholsüchtigen Frauen in der Schweiz des 19. Jahrhunderts. Das Tempo ist meist sehr schnell, der Zuschauer ist gefordert und muss zusehen dass ihm kein Detail – quasi als Fallmasche – entgeht.

Die Inszenierung beginnt schon vor der Billetkontrolle: Ex-Miss Schweiz Nadine Vinzens verteilt Autogrammkarten. Danach besammelt sich das ganze Publikum im Hof und wird zum Bühneneingang geführt. Auf dem Weg ist ein singendes Bauernmädchen zu sehen, welches die Zuschauenden in die Theaterhalle lockt. Als Begrüssung gibt es erst einmal Tee und Kekse, während alle auf der Bühne des Theaters auf bequemen Stoffhockern Platz nehmen.

Dieses Vorspiel repräsentiert einen wesentlichen Leitfaden des Künstlerkollektivs: Der Zuschauer schaut nicht nur zu, er partizipiert am Theatergeschehen. Einerseits wird er von den Schauspielern physisch in das Geschehen mit einbezogen, sei es beim Nachstellen eines Ankerbildes oder beim schweizerdeutschen Karaoke-Singen.

Andererseits wird er ständig zum Mitdenken und Hinterfragen gezwungen. Mithilfe des Stilmittels Verfremdungseffekt aus dem Brechtschen Epischen Theater werden die Handlungsfäden zerrissen. Durch fussnotenartige Kommentare werden sie sogleich an ablenkende Gedankenstränge angeknüpft. Die daraus entstehende Dynamik inspiriert die Zuschauer zur Reflexion: Zu Gedankenexkursen über weibliche Sexualität und Alkohol, zum Nachdenken über Schweizer Traditionen, das Bild der Schweiz, Christoph Blocher oder Anders Breivik. Dabei drängen die Schauspieler keine vorgefertigten Antworten auf, sondern lassen die aufgeworfenen Fragen im Raum stehen, damit sie der Zuschauer später für sich weiterdenken kann.

Dogmatisches Bekenntnis

Konsequenterweise wird die Produktion mit einfachsten Mitteln realisiert. Ein weiteres wichtiges Garn in 400asas’ Gewebe, denn ihr Credo ist Sach- und Inhaltbezogenheit im Gegensatz zu den selbstzweckhaften Inszenierungen der hoch budgetierten Theater. Sie halten sich auch im Branntweinmusical an die meisten Punkte ihres «Bekenntnis99» – nach dem Vorbild der dänischen Dogma-Filme –, welches ihnen unter anderem diese Beschränkung der künstlerischen Mittel vorschreibt.

Der Asketismus wirkt sich überhaupt nicht negativ auf den Inhalt aus. Im Gegenteil: Immer farbiger werden die Fäden, immer vielschichtiger und verstrickter die Inszenierung. Neben Reha-Zwirn wird auch auch Geschlechterkonflikts-Wolle in die Lismete mit eingearbeitet: Der Theaternovize Nikolai steht komplett unter der Fuchtel der fünf Branntweinfrauen und muss neben körperlichen Torturen auch eine fiese Schauspiel-Lektion über sich ergehen lassen. Zum Schluss eröffnet er fast beiläufig noch einen Diskurs über den Filz des Kunstbetriebs, sowie über die grundsätzliche Frage: «Was ist freie Kunst?».

Leider gibt es als Begleitmaterial zur Produktion nur ein Faltblatt mit Definitionen einiger für das Stück relevanter Begriffe. Ein etwas umfangreicheres «Programmheft» würde viele Feinheiten verdeutlichen und Intentionen der Künstler schon beim ersten Vorstellungsbesuch offenlegen. Man kann sich das Stück allerdings gut und gerne auch zweimal anschauen.

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