Zwillingsschicksale: mal authentisch, mal absurd
Die Veranstaltung
Was: Lola Arias / Becker & Becker: That enemy within
Wo: Theaterhaus Gessnerallee, Zürich
Wann: 12.06.2010 bis 14.06.2010
Bereich: Theater
Die Autorin
Sophie Caflisch: Jahrgang 1983, Studium Phil. I, Assistentin an der Universität Zürich, davor Praktikantin am Fabriktheater Rote Fabrik und am Stadttheater Solothurn. Journalistisch tätig im Rahmen des Nachwuchs-Opernprojektes «OpernHausen».
Die Kritik
Lektorat: Stefan Schöbi.
Diese Kritik wurde in Auftrag gegeben und bezahlt von: Theaterhaus Gessnerallee (siehe Unabhängigkeit).
Von Sophie Caflisch, 13.6.2010
Zwillinge sind schon als Baby blau-rosa. Nach einem Katz- und Mausspiel um das zentrale Bühnenelement, das ausschaut wie ein geschlossenes Karrussell auf dem Jahrmarkt, stehen die eineiigen Zwillingsschwestern Esther und Anna K. Becker da in identischen Kapuzenpullis und sind für den Zuschauer zunächst überhaupt nicht unterscheidbar. Ein Trommelwirbel der Verblüffung. Ein Spiel beginnt, das zwischen Authentizität und Absurdität oszilliert und die Freakshow doch stets zu vermeiden weiss.
Höchst virtuos werden auf der Aussenwand des drehbaren Karrussells ebenso drehbare Projektionen aufgerollt. Becker und Becker mit Schnuller, mit Pferd, mit Kleid immer in identischen Posen. Als ob man doppelt sähe. Der Film eines unfreiwilligen Lebens zu zweit untermalt von einer eher unspektakulären Filmmusik von Ulises Conti am Klavier.
Fast unheimliche Stimmung kommt auf, als mittels zweier Lifekameras Hände, Lippen, Füsse, Zähne, Muttermale und Nasenlöcher verglichen werden. Der Unterschied liegt in den Details. Und die Details sind entscheidend in diesem Kampf um das Recht, verschieden zu sein.
Das Original und die Kopie
Immer, wenn ich ich sagen wollte, sagte ich wir. Wie kann man die eigene Identität finden, wenn es jemanden gibt, der mit einem verbunden ist, als sei er die andere Seite eines Spiegels? Dieser Frage gehen Becker und Becker mit ebenso viel Tiefgang wie Humor auf den Grund. Ich fühle mich gleichzeitig stärker und schwächer, wenn du nicht da bist. Ich bin in eine andere Stadt gezogen, um nicht immer mit dir verwechselt zu werden. Und als du mir gesagt hast, dass du heiratest hab ich geantwortet: Seit wann heiraten wir? Und eigentlich könnte man sich ja einen Mann teilen als eineiige Zwillinge und dadurch gleichzeitig single und verheiratet sein. Schliesslich teilt man sich auch den Eintritt ins Fitnessstudio und die Bahncard.
Freaks, Versuchskaninchen und geteiltes Sterben
Die Texterin und Regisseurin Lola Arias eröffnet mit Seitenblicken auf berühmte Zwillingsschicksale das Feld der Zwillingsforschung und der Angst vor dem Abnormen, die Zwillingsgeburten schon in der Antike als böses Omen erscheinen liessen.
Die siamesischen Zwillinge Chang und Eng Bunker sollten zunächst hingerichtet werden, traten dann im Zirkus auf, wo sie Weltbekanntheit erlangten, heirateten, 21 Kinder zeugten (keiner weiss genau, wie das vor sich ging) und mit 47 Jahren an der Alkoholsucht des einen Bruders starben. Verbunden auf Gedeih und Verderb. Der Tatsache der geteilten Geburt wirft die Idee des geteilten Todes auf. Mit Tape im Gesicht zu Grossmüttern gealtert geben uns die Protagonistinnen einen sehr anrührenden Einblick in existentielle Fragen, die sich auch stellen, wenn man keine Leber teilt. Wie wird es sein, wenn jemand von uns stirbt? Können wir leben ohne einander? Bist du ein Teil von mir? Werde ich deinen Erfolg ertragen und meine Einsamkeit? Werden wir denselben Weg gehen, wo immer wir sind?
Zitiert werden auch die menschenverachtenden Zwillings-Experimente des Nazi-Arztes Josef Mengele bis zu rezenten Resultaten aus dem New Scientist, die Antworten auf die alte Frage suchen, inwiefern unser Handeln von den Genen oder dem Umfeld bestimmt sei. Sind Intelligenz, politische Einstellung oder Homosexualität nicht vielleicht doch angeboren? Die allzu kühne Mischung von modernen Experimenten mit Pheromonsprays und Mengeles systematischem Morden hinterlässt einen schalen Nachgeschmack.
Ein Plädoyer für die Suche nach sich selbst
Plötzlich gelingt es, die Protagonistinnen zu unterscheiden. Vier eineiige Zwillingspaare aus Zürich bringen die Verblüffung über eine Laune der Natur zurück auf die Bühne und schliessen den Kreis. Auch wenn der Abend über weite Strecken von der frappierenden Ähnlichkeit der beiden Theaterfrauen lebt, entwickelt er sich doch zu einem technisch raffiniert untermalten Plädoyer für die Suche nach sich selbst.