Sex, Intrigen und ein grauhaariges Publikum
Die Veranstaltung
Was: Lesung: «Quartett» von Heiner Müller
Wo: Theater Rigiblick
Wann: 28.09.2010
Bereich: Literatur
Die Kritik
Lektorat: Stefan Schöbi.
Von Nathalie Schmidhauser, 2.10.2010
Wollen nur in die Jahre gekommene und Gutbetuchte Heiner Müller hören? Fast scheint es so, an diesem Abend im Theater Rigiblick. Im Publikum dominieren graue Haare und edle schwarze Anzüge. Geht es in Müllers «Quartett» nicht hauptsächlich um Sex und Intrigen, ja, ist das Zweipersonenstück nicht ein regelrechter Porno, wenn auch auf einer sehr intellektuellen Ebene? Daran besteht kein Zweifel. Ob das den Herren und Damen gefallen wird?
Im Zentrum steht der Text
Der Raum ist dunkel, auf der Bühne stehen zwei viereckige Holztische, halb zu einander, halb zum Publikum gewandt. Links davon befindet sich ein grosser, dunkler Fleck, der sich als Klavierflügel entpuppt. Aus dem schweren Instrument ertönen die ersten Klänge, welche die Zuschauer zum Verstummen bringen. Traurig und sehnsüchtig verlieren sich die Klaviernoten im Raum. Wieder geht das Licht aus, erneut breitet sich Dunkelheit aus. «Zeitraum: Salon vor der Französischen Revolution» hallt Charlotte Schwabs Stimme durch den Raum. «Bunker nach dem dritten Weltkrieg» quittiert Thomas Sarbacher.
Wenn Charlotte Schwab den Part der Marquise de Merteuil liest, dröhnt ihre Stimme laut und rauchig über die Bühne, immer an der Grenze zum sich überschlagenden Gekrächze. Beim Wort «Physiologie» geht ein leichtes Gekicher durch das Publikum, das sich beim Wort «Wollust» noch verstärkt. Im Laufe des Abends wird es sich zunehmend in ein gelöstes Gelächter verwandeln. Auf einmal bin ich mir nicht mehr so sicher, ob tatsächlich die grauen Haare dominieren.
Schwab trägt kein Kostüm, ebenso wenig Sarbacher. Zu Beginn wird nur die Marquise beleuchtet, alles andere verschwindet hinter dunklen Schatten. Schwarz dominiert das Ambiente: Der Boden, die Decke, die Kleidung der Vorleser, das Klavier und die Pianistin. Alles ist Hintergrund, im Zentrum steht der Text. Er ist heute Abend der Protagonist.
Wortgewalt ohne Mimik
Einen Theatertext nur zu lesen, statt ihn zu spielen, ist ein schwieriges Unterfangen. Obwohl gewisse Stücke, und dazu zählt auch «Quartett», (fast) unspielbar scheinen. Dürrenmatt hat irgendwann aufgehört, Theaterstücke zu schreiben, weil die Welt für ihn auf der Bühne nicht mehr darstellbar war. «Quartett» aber ist ein Theatertext. Wird er nur gelesen, und nicht gespielt, geht ein zentraler Bestandteil verloren. Auch handelt es sich bei der Lesung im Theater Rigiblick nicht um eine szenische Lesung. Charlotte Schwab hält den ganzen Abend lang ihr Skript in den Händen und liest ab. Die grosse Brille und das scharfe Licht lassen keine erkennbare Mimik zu. Nur ganz selten wendet sie sich an das Publikum oder an Thomas Sarbacher alias Valmont, nur ganz selten auch braucht sie ihre Hände oder ihren Körper. Auch die Mikrofone und das Wasserglas auf den Tischen lassen darauf schliessen, dass hier absichtlich keinerlei Inszenierung statt finden soll.
Wieso also dafür bezahlen, einen Text vorgelesen zu bekommen, wenn man ihn auch selber zu Hause lesen könnte? Der wortgewaltige Text bekommt in dieser öffentlichen Lesung plötzlich eine andere Form. Tatsächlich, das Publikum wird immer amüsierter, es kichert und lacht. Plötzlich wird der Text witzig. Und irgendwie einfacher.
Hörspiel oder Lesung?
Zwischendurch beschleicht einem das Gefühl, an einem Hörspiel, und nicht an einer Lesung teilzunehmen. Unterstützt wird dieses Empfinden vor allem auch durch die Klaviermusik, die zwischen den einzelnen Szenen erklingt. Die Musik der Pianistin Mako Boetschi Yamazaki begleitet das Stück nicht, sondern grenzt es von sich ab. Zum Glück aber schafft es Sarbacher immer wieder, diesen faden Charakter der Lesung zu verändern. Er wirkt überzeugend: Obwohl er nicht verkleidet ist, sieht er aus wie ein Valmont. Seine Textsicherheit lässt eine Gestik und Mimik zu, welche die Lesung belebt. Charlotte Schwab ist weniger textsicher. Und vor allem: Sie klammert sich den ganzen Abend lang verkrampft an den Text. Die Virtuosität der Worte geht dadurch verloren.
Beide, Schwab und Sarbacher lesen ihren jeweiligen Partien sehr nüchtern. Diese Kultiviertheit hat vor dem Kontrast der abgründigen Tiefe und Bestialität des Textes ihren Reiz. Und trotzdem fehlt ein wenig das Wimmern, Schreien, Stöhnen und Hecheln der «gefährlichen Liebschaft», um die es im Dialog geht. Am Schluss stirbt Valmont auf höchstem sprachlichen Niveau. Das Publikum ist begeistert.