Bündnerfleisch-Western mit Axt-Effekt

Die Veranstaltung

Was: Jenatsch – 400asa
Wo: Fabriktheater, Rote Fabrik
Wann: 04.06.2010 bis 10.06.2010
Bereich: Theater

Die Autorin

Fadrina Arpagaus: Jahrgang 1980, Dramaturgin am Theater Basel.

Die Kritik

Lektorat: Sophie Caflisch.

Von Fadrina Arpagaus, 7.6.2010

Am Anfang steht der Konkurs. Bei der Krisensitzung des World Jenatsch Forums rauft sich die Vertreterin der Ernst Göhner Stiftung die Haare: 3,4 Millionen Franken haben die Jenatsch-Recherchen bis jetzt verschlungen. Für Inspirationswandern in den Bündner Bergen, überflüssige Treffen mit zwielichtigen Filmproduzenten und nächtelanges Zechen mit Segantinis Sohn geht halt so einiges drauf. Auch der Rega-Einsatz auf dem Septimer muss bezahlt werden – dort hat es Tote gegeben. Spätestens jetzt wird klar, dass Wandeln auf den Spuren des schillernden Bündner Freiheitskämpfers Jürg Jenatsch ein gefährliches Unterfangen ist. Gut, dass wenigstens der Historiker in der Runde etwas mit dem Geld anzufangen wusste: Er hat in Florida das Phönix-Seminar besucht und sich vom Scientology-Geist beseelen lassen. Das hat ihn gelehrt: Folge deiner Vision. Und daran glauben bald nicht nur er, sondern auch alle anderen Kolloquiumsteilnehmer.

Jenatsch-Visionen

Das Spiel beginnt. Während die Zuschauer über die grossartig fotografierten Bilder von Jules Spinatsch direkt in die Urlandschaft Graubündens gesogen werden, klebt das Ohr sofort an den ersten Sätzen aus Conrad Ferdinand Meyers Jenatsch-Roman fest. Da ist zum ersten Mal die Gänsehaut da. Es ist die kraftvolle Sprache, leuchtend wie ein Fossil im Bernstein, die mitten ins archaische Herz des Bündnerlands führt. Doch die Magie währt nicht lange. Bald liefern sich ein aus dem Kostümfundus entstiegener Jürg Jenatsch (Kaspar Weiss) und seine Geliebte Lukretia (Meret Hottinger), aber auch ein vor Eifer triefender Historiker, der via iPod Touch ununterbrochen historische Quellenforschung auf Wikipedia betreibt (Julian M. Grünthal), ein narzisstisch-cholerischer Regisseur (herrlich prototypisch: Philippe Graber) und ein gegelter österreichischer Filmproduzent, für den Jenatsch nichts anderes ist als die Kontinentalvariante von Braveheart (Thomas Reisinger), ein pointenreiches Inszenierungsgefecht, das unglaublich Spass macht.

Zwischen Fiktion, Realität und Wikipedia

Trotzdem: Die Zürcher Version des Projekts von 400asa und dem Churer Ensemble bleibt ein «Jenatsch light». Während bei der Uraufführung am Theater Chur noch Krieger in futuristischen Kubrick-Kostümen zur unheimlichen Outdoor-Schlacht aufmarschiert waren und knatternde Motorräder den Abend aufmischten, bleiben in Zürich von diesen Ganzkörpereinsätzen in der frischen Luft nur noch Videoaufzeichnungen und ein kurzes Planschen im Zürichsee übrig. Und man fragt sich: Was war damals, in Chur? Und damals, viele Jahrhunderte früher, im Veltlin? Das Spiel mit Inszenierungs- und Legendenbruchstücken; mit Fiktion, Realität und Wikipedia ist in diesem Stück Programm. Bei Meret Hottinger ist Jenatsch eine Frau; bei Philippe Graber ein schmieriger Politiker von heute, der übers iPhone seine Verbündeten verrät. Bei Philipp Stengele ist er ein Tschetschenien-Terrorist, bei Julian M. Grünthal ein Stück Schulbuchwissen. Jürg Jenatsch war und ist so vieles – und bleibt in dieser Inszenierung dennoch der grosse Abwesende. Jenatsch ist wie ein Kaugummi: Man kaut ein bisschen auf ihm herum und spuckt ihn wieder aus, sobald er an Geschmack verliert.

Showdown in Hollywood?

Nur dann, wenn Meret Hottingers Lukretia eindringlich auf französisch um einen Passierschein durch Bünden fleht oder auf rätoromanisch zur Klage um ihren verlorenen Vater anhebt, flackert die emotionale Wucht dieser Geschichte um Macht, Liebe und Verrat auf, und man hört das Echo ihrer Stimme von den Bergen hallen. Schade, dass Regisseur Samuel Schwarz der Dramatik dieser grossen Historien-Saga mit Hollywood-Drehbuch-Potential so wenig vertraut. Man wünscht sich weitere solcher steinlawinenartiger Momente und auch, dass der von Philippe Graber entwickelte «Axt-Effekt» mehr ist als nur das kurze Herumfuchteln mit dem Mordwerkzeug, das bloss wieder in der nächsten Pointe mündet.

Am Ende dürfen die Zuschauer aber trotzdem auf mehr hoffen: Jürg Jenatsch soll in der spanisch-österreichisch-tschetschenischen (!) Koproduktion «C’era una volta il grischun» auf der Leinwand noch einmal auferstehen. So freuen uns auf einen währschaften Bündnerfleisch-Western – coming soon.

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