Wenn der Alzheimer mitbloggt

Die Veranstaltung

Was: Im Stillen
Wo: Theater Rigiblick
Wann: 27.10.2010 bis 28.10.2010
Bereich: Theater

Der Autor

Gregor Schenker: Jahrgang 1984, studiert Germanistik sowie Filmwissenschaft in Zürich und schreibt seit langem leidenschaftlich Kritiken, unter anderem für «badmovies.de» oder «students.ch».

Die Kritik

Lektorat: .

Von Gregor Schenker, 29.10.2010

Man kann wohl von einem gelungenen Gastspiel sprechen, wenn man als Zuschauer den Saal mit einer Träne im Auge verlässt. Wie bei «Im Stillen». Das Theater Rigiblick holte Clemens Mädge mit seinem Debütstück von Hamburg nach Zürich, mitsamt den Schauspielern. Die knappe Stunde, die das Werk dauert, beginnt mit Margarete (Juliane Koren), die auf der Bühne sitzt und an ihrem Schreibtisch Kreuzworträtsel löst. Sie war früher Sekretärin, erzählt sie dem Publikum. Jetzt ist sie pensioniert und unzufrieden: Ihr Gatte Hermann sitzt den ganzen Tag vor dem Fernseher, die Kolleginnen von einst reden nur noch über ihre Gebrechen und den neusten Tratsch, die Kinder rufen nicht einmal an. Bloss Jonas (Martin Wolf), der Enkel, besucht sie regelmässig. Auch er vertraut sich uns Zuschauern an: Er weiss nicht so recht, ob das Germanistik-Studium das Richtige für ihn ist, die Freundin macht Probleme, die Mutter ist unerträglich. Die einzige, mit der er reden kann, ist Margarete.

Eines Tages schenkt Jonas seiner Grossmutter einen Laptop. Sie entdeckt das Internet und beginnt zu bloggen, aber niemand interessiert sich für die Gedanken einer alten Frau. Also gibt sie sich als 25-Jährige aus und verarbeitet in den Blogeinträgen ihre Jugenderinnerungen. Bis hierhin ist «Im Stillen» nicht wahnsinnig originell, aber ziemlich witzig, vor allem dank den tollen Schauspielern und den glaubwürdigen Dialogen.
Dann bleibt einem das Lachen aber zunehmend im Halse stecken: Bei Margarete häufen sich die geistigen Ausfälle. Sie wird vergesslich, versteht nicht mehr so recht, was um sie herum vor sich geht. Auch mit Hermann wird es immer schlimmer. Als er schliesslich stirbt, ist die Demenz bei Margarete schon so weit fortgeschritten, dass sie das gar nicht mehr realisiert. Und sie erkennt auch Jonas nicht mehr. Unvergleichlich ist bei alledem die Leistung von Juliane Koren: Ist sie zu Anfang ein quirliges Energiebündel, so sinkt sie mit der Zeit regelrecht in sich zusammen, wird immer leiser, wirkt immer zerbrechlicher. Das Publikum wird ganz still.

Vom Lachen zum Weinen

Es ist alles in allem ein tieftrauriges Stück. Jonas verliert den einzigen Menschen, mit dem er sich wirklich verstanden hat. Und er wird plötzlich mit einer grossen Verantwortung konfrontiert, obwohl er doch nicht einmal weiss, was er eines Tages beruflich machen soll. Sich um seine Grosseltern zu kümmern, überfordert ihn hoffnungslos. «Im Stillen» zeigt den schmerzhaften Verlust eines geliebten Menschen, die Gnadenlosigkeit der fortschreitenden Demenz. Ganz ohne Sentimentalität, aber berührend.

Der 1983 geborene Mädge («M – Ein Mann jagt sich selber»), der als Regieassistent beim Jungen Schauspielhaus Hamburg engagiert ist, vermittelt auch die Perspektive der Kranken mit einfachen, aber wirkungsvollen Mitteln und schafft es, den Verlust von Erinnerungen und Denkfähigkeit eindrücklich zu veranschaulichen: Bilder, Diplome, Möbel oder der Teppich, die Margarete umgeben, werden nach und nach abgetragen. Gleichzeitig vermischen sich in den Blogeinträgen der alten Frau immer stärker Gegenwart und Vergangenheit, Wirklichkeit und Fiktion. Margarete verliert ihr Ich und flüchtet sich in eine digitale Identität, bis sich schliesslich auch diese auflöst und ihr nicht einmal mehr die Sprache bleibt. Ganz zum Schluss richtet Jonas das erste und einzige Mal im Stück das Wort direkt an seine Grossmutter – aber sie reagiert nicht mehr. Diese Stille wirkt noch lange nach.

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