Gelungenes Schaubild für Aug und Ohr

Die Veranstaltung

Was: Gespenster
Wo: Theater der Künste, Zeughaus 3
Wann: 16.09.2010 bis 02.10.2010
Bereich: Theater

Die Autorin

Anja Wegmann: Jahrgang 1981, unterrichtet seit ihrem Germanistikstudium in Zürich und Berlin am Gymnasium. Daneben schnuppert sie gerne Redaktionsluft und gönnt sich Abstecher in die Theaterwelt. Letzteres unterdessen nicht nur genüsslich zuschauend und kritisch zerpflückend; die Weiterbildung in Theaterpädagogik an der ZHdK sieht nämlich vor, Madame dann und wann auch mal selbst auf die Bretter klettern zu lassen, die die Welt …

Die Kritik

Lektorat: Stefan Schöbi.

Von Anja Wegmann, 19.9.2010

Diagonal, beinahe raumfüllend erstreckt es sich über den Bühnenboden: ein lateinisches Kreuz von schwarzer Farbe. Als ein leicht erhöhtes Podium, mit einem Wandelgang in der Mitte, nimmt es selbst die Funktion einer Bühne wahr. Zwei Figuren haben darauf – schon vor Eintreten der Zuschauer – Platz genommen. Nicht ohne Grund sitzen der Mann (er hat ein beträchtlichen Reservoir an Gläsern und Alkoholika bei sich stehen) und die Dame (etwas weiter entfernt und eingehüllt in schwarzes Tuch) mit dem Rücken zum Publikum. Die Parameter des Abends, für den symbolkundigen Zuschauer bereits am Bühnenbild ablesbar, verdeutlichen sich bald nach Beginn des Stücks. Unschwer lässt sich erraten, worum es im Kern der Aufführung geht: Um Passion im Sinne eines Leidenszyklus’, um Entfremdung, aber auch um Passion im Sinne des leidenschaftlichen Suchens.

Wiedergängertum in Parallelchoreografien und Refrains

Die Dramen Henrik Ibsens werden oft als Schaubilder heruntergekommener Familien- und sonstiger Beziehungen gesehen. «Gespenster» bildet keine Ausnahme, wie Elisabeth Ramm (Regie) und ihre Mitstreiter (Bühnenbild: Michaela Flück, Dramaturgie: Amir Garibovic) sogleich verdeutlichen. Eine Parallelchoreografie stupider Bewegungsabläufe inszeniert die Chiffre des Wahnsinns. Mit brüchig verzagter Stimme und vornüber wippend versucht sich Witwe Helene Alving (Ruth Schwegler) in Kindergesängen. Derweil sieht man im verschwitzten Alkoholiker, der stöhnend seine Gläser auf dem Bühnengrund hin- und herschiebt (Utz Bodamer), sämtliche Fantasien vor Augen geführt, die sich von männlichem Übel denken lassen. Das Besondere daran: Ein einzelner Schauspieler reicht aus, um stellvertretend alle drei Negativcharaktere der Geschichte zu verkörpern. Da ist der verstorbene Übervater Alving, der auf Erden nichts als die Früchte seines lasterhaften Tuns hinterliess: den erbkranken Sohn Osvald (Kaspar Locher) und dessen Halbschwester Regine (Judith Cuénod), einem Verhältnis mit dem früheren Hausmädchen der Alvings entsprossen und nun selbst Bedienstete von Witwe Alving. Da ist Regines übergriffiger Stiefvater, der Tischler Engstrand. Schliesslich Pastor Manders, der allwissende und aufdringlich insinuierende Hausfreund, vor Jahren in eine vergangene Liaison mit Helene Alving verstrickt.

Ibsen verfasste das Stück 1881 unter dem norwegischen Titel «Gengangere», was auch «Wiederholung» oder «wiederkehrendes Thema» bedeutet. In Elisabeth Ramms Inszenierung lässt sich dieses thematische Wiedergängertum mit allen Sinnen erfahren. Die erwähnte kreuzförmige Bühnengestaltung ist hier nur das Augenfälligste. Es geht auch subtiler: In Witwe Alvings gekrächzten Refrains kommt Nihilistisches akustisch zum Ausdruck, wenn nämlich dem vordergründig beschaulichen Liedchen «Der Mond ist aufgegangen», das bekanntlich etwas gespenstisch den Nebel «aus den Wiesen steigen» lässt, der Wiegengesang von «Maikäfer, flieg» folgt, der in Krieg und abgebranntem Pommerland symbolisch den Tod der Kernfamilie beschwört.

Gelungenes Spiel und Dialoge

Die Umstände zwingen Witwe Alving, die verhängnisvolle Geschwisterbeziehung aufzudecken. Ihr Sohn muss die jahrelang aufrechterhaltene Illusion vom idealen Vater aufgeben. Nichts ist so, wie es scheint. Was war, ist nicht vergangen, sondern es kehrt wieder. Und was ist, geht dem Nichts entgegen. Hat Helenes Flucht in die Verdrängung diese kurz vor den Wahnsinn gebracht, endet Osvald ganz reell im syphilitischen Wahnsinn: Er flieht durch die offenstehende Theatertüre ins Freie.

Im kahl verbliebenen, allein mit dem Kreuz bestückten Bühnenraum hat sich Elisabeth Ramm in ihrer Abschlussproduktion für das Primat des Spiels und der Dialoge entschieden. Glücken wollte das erst nach anfänglichen schauspielerischen Unsicherheiten beziehungsweise einzelnen szenischen Übertreibungen. Als Regine schlägt Judith Cuénod etwa da, wo Engstrand seine Stieftochter in die Mangel nimmt, eine unnötige Schrei-Lautstärke ein. In der Hälfte gewinnt die Produktion aber an Fahrt. Augenfällig und gut gelungen: die Szenen mit Frau Alvings traumatischen Erinnerungen und den dazu parallel, von Osvald und Regine, getanzten Paarchoreografien. Hier kann die Regisseurin der Wirkung der Textvorlage und dem Spiel ihrer Figuren vertrauen.

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