Skurriles am See
Die Veranstaltung
Was: Fabrikjazz – Anker-Taborn-Cleaver
Wo: Rote Fabrik, Clubraum
Wann: 05.05.2010
Bereich: Musik
Der Autor
Matthias Nawrat: Jahrgang 1979, studiert Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Seit mehr als zehn Jahren schreibt er Prosa. Als Schriftsteller und Musiker interessiert er sich für verschiedene Kultursparten. Seit zwei Jahren schreibt er als freier Journalist in den Bereichen Naturwissenschaften und Kultur.
Die Kritik
Lektorat: .
Von Matthias Nawrat, 9.5.2010
Um es vorwegzunehmen: Das Konzert endete mit einer großen Stille, mit einer Stille zum Zerreissen.
Und die Stille befragten die drei Jazz-Musiker von Anker-Taborn-Cleaver an diesem Mittwochabend im Clubraum der Roten Fabrik immer wieder. Die Stille in all ihren Abschattungen, von der totalen Abwesenheit der Geräusche über das leise Rauschen des Regens auf nassem Wiesengras bis hin zum Neben- und Übereinander aller nur erdenklichen Töne, hinter denen die Stille sich versteckte.
Ein Morgen am See: Zunächst ist da nichts. Ein Frieden höchstens, weil alles schläft. Das Licht ist noch zart, das Wasser schwappt leise ans Ufer, Nebel liegt über der Seemitte. Und dann setzt ein unter- schwelliger Puls ein, nur mit seinen Händen streicht der New Yorker Schlagzeuger Gerald Cleaver über seine tiefen Trommeln. Rollt da aus der Ferne ein Zug heran? Unmöglich zu sagen, das Geräusch ist noch zu weit entfernt. Irgendwoher krächzt plötzlich eine Rohrdommel, das ist das Sopran-Saxofon von Lotte Anker aus Dänemark. Von der anderen Seite des Sees pfeift ein Rohrsänger eine Antwort, im Schilf erwachen weitere Vögel, singen hier eine Melodie, piepsen dort ein bisschen vor sich hin. Ein Regen- schauer rauscht über das Wasser, das Klavier von Craig Taborn lässt die Tropfen lustig hüpfen. Was für ein schöner Moment, hier möchte man bleiben.
Dieser See ist der Ausgangspunkt, zu dem die drei Musiker von nun an immer wieder zurückkehren werden, mal in einem kurzen Zitat, mal in fast unendlich lang anhaltenden Momenten, in denen kein einzelner Ton zu hören ist oder aber das süss-traurige Klavierspiel Chopins. Zwischendrin passieren viele Dinge. Eine lustige Entenfamilie marschiert etwa durchs Gras. Vater Ente, Mutter Ente und die sieben Küken, die neugierig zu allen Seiten blicken. Ein romantisches Bild. Und doch stimmt etwas an diesem Bild nicht. Etwas ist schief, unlogisch, verdreht. Wie in einem Haus von Escher marschieren die Enten in einer unmöglichen Schleife. Und bei näherer Beschau sehen sie gar nicht wie echte Enten aus. Sie müssen aus der Werkstatt von Picasso stammen. Ein Flügel an der falschen Stelle, der Schnabel wo das linke Auge und das linke Auge wo der Schnabel sein müsste. Skurril mutet die Schönheit hier an.
Eine illustre Gesellschaft
Und dann ist der Zug endlich da und alle Vögel drehen ihre Köpfe. Ein dampfender Koloss in voller Fahrt. Und in den Abteilen eine illustre Gesellschaft: Gäste aus dem Orient, eine Diva, ein wichtiger Staatsmann, ein Abenteurer, sie rauschen durch die Frühlingslandschaft, über der jetzt die Wolken aufbrechen und die Sonne zum Vorschein kommt. Der Tau glitzert im Schilf, ein Regenbogen über dem Wald, ein weiterer über den Bergen. Ebenfalls an Bord ist ein Spion seiner Majestät. Der Zug rast und rast und im Speisewagen wird Tee serviert. Die Tiere am Ufer strecken ihre Hälse: So ein fahrendes Wunderkabinett haben sie noch nie gesehen.
Anker grunzte, quietschte, flötete abwechselnd auf dem Sopran-, Tenor- und Alt-Saxofon. Cleaver strich scheppernd über die Becken, klopfte dumpfe Töne aus den Basstrommeln, erzeugte im Magen arbeitende Grooves. Und Taborns’ Spiel war hier wie gestanzt und entzog sich dort rigoros einer rhythmischen Struktur. Als würden sich die Noten miteinander unterhalten, in einer Sprache, die nur sie verstehen. In der Zugabe drehten die drei Musiker ihre Töne dann besonders bedächtig zwischen den Fingern hin und her. Als wären sie nach diesem fast zweistündigen Wechselbad der Frühlingsgefühle selbst erstaunt, dass so etwas wie Klang möglich ist. Rede. Antwort. Rede. Antwort. Die Pausen immer länger. Der letzte Ton blieb stehen. Man wagte nicht mehr zu atmen. Stille. Bis Anker lachte und sich verbeugte. Erst da löste sich etwas im Raum und das erste Klatschen setzte ein.