Texte und Töne, zwischen Albtraum und Komik

Die Veranstaltung

Was: Das Buch der Albträume/Klarinette
Wo: Theater Rigiblick
Wann: 07.03.2010
Bereiche: Musik, Theater

Der Autor

Gianna Molinari: Jahrgang 1988, studiert Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel.

Die Kritik

Lektorat: .

Von Gianna Molinari, 9.3.2010

Wir befinden uns am Zürichberg, in den vermeintlich geschützten Räumen des Theater Rigiblick und dennoch, wir zappeln, zagen, und zucken, denn der Schweizer Autor Urs Widmer liest aus seinem 2000 erschienenen „Buch der Albträume“. Begleitet wird er vom Klarinettisten und Komponisten Michael Riessler.

Alb oder Traum?

Wie ein Alp, der sich auf unseren Brustkorb setzt und durch sein Gewicht in uns Beklemmung, Atemnot und Albtraumbilder auslöst, genau so fühlt es sich an, wenn Urs Widmers Stimme und Michael Riesslers Bassklarinettenlaute erklingen. Je nach geschildertem Alptraumszenario werden wir zu einem Piepmatz, zu einer Elster, zu einem Zottelbär oder Frosch; man nennt uns Lamm, Stockfisch, Motte, Dachs oder Knilch.
Wir tauchen in Abgründe voller Angst, überqueren ein Schlachtfeld, liegen im eigenen Blut, aufgeschlitzt, aufgerissen. Wir werden heimgesucht von der eigenen Vergangenheit, laufen dämonendurchtränkten Mauern entlang, werden von einer fleischfressenden Pflanze verschlungen, Wölfe schnappen nach unseren Fingern und tote Frauen hetzen uns durch Strassen.

Lautmalerisch, ernst und komisch

Widmers Geschichten sind märchenhaft und komisch, jedoch keineswegs harmlos. Vielmehr zeigt er uns eine Welt, wo der Regen das Weinen der toten Seelen ist, wo Dichter Dichter fressen und auf die Frage ob es sich um einen „Alb oder Traum“ handelt, keine Antwort zu finden ist. Wir werden gewarnt: „Messer stechen auch in der Gegenrichtung. Schüsse gehen auch hinten hinaus. Feuer verzehrt auch dich.“
Michael Riessler weitet die Grenzen seines Instruments auf spielerische Weise aus. Er verwendet Spieltechniken wie Zirkuläratmung, erzeugt Obertöne, spielt und singt gleichzeitig, erzeugt Rhythmen mit den Klappen, überbläst, beschleunigt, verlangsamt. Daraus entstehen lautmalerische Klangteppiche, welche die „Kleinen Prosastücke“ Widmers sehr stimmig begleiten. Riesslers Experimentier- und Improvisationslust scheinen keine Grenzen gesetzt zu sein; er produziert Klänge, Töne, Geräusche und Rhythmen mit Hilfe einer Spieldose mit selbst gestanzten Lochbändern, einer Maultrommel, Messern, Klangkugeln und Geräuschdosen.

Der zweite Teil des Abends gestaltet sich deutlich leichter. Widmer kommt hier als meisterhafter Erzähler mit komischer Note zur Geltung. Er flüstert die Geschichte vom Mann, der viel zu laut sprach und schreit uns entgegen, wie es bis zu dessen Schweigen kam. Das Zusammenspiel von Widmer und Riessler wird so laut und dicht, dass uns die Ohren schmerzen.
Um dem Vorwurf Abhilfe zu verschaffen, dass „die Phantasie manchmal mit ihm durchbrennt“, beschliesst Widmer den Abend mit dem „streng autobiografischen“ Text „Im Hotel“ und versichert: „Jedes Wort ist wahr, jeder Ton ist wahr.“ Die Hotelgeschichten, die oft auch Albträumen gleichen, führen uns in verschiedenste Städte, die durch Riessler auch klanglich Gestalt annehmen.

Auch wenn die Reise zu den Abgründen unserer Seele und in unsere Träume kurz war und sich die Klarinettensoli teilweise in die Länge zogen, wissen wir nun mit Sicherheit: Alpträume können schrecklich schön sein.

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